Sind wir nur Staub?

Jostein Gaarder hat ein Novemberbuch geschrieben

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
»Ich habe das Gefühl, Jux und Narrenstreichen zum Opfer gefallen zu sein, denn zuerst kommt jemand und sagt: Bitte sehr, hier hast du eine ganze Welt, auf der du dich tummeln kannst. Hier ist deine Klapper, hier ist deine Eisenbahn, hier ist die Schule, in der du im Herbst anfangen wirst. Um dann loszuprusten: April, April, reingefallen! Und dann wird mir die ganze Welt wieder aus der Hand gerissen.« Jostein Gaarder Der Garten Eden: Die kindliche Vorstellung von Geborgenheit mit den Menschen, die man liebt. Die Vertreibung aus dem Paradies: Wenn das Kind erfährt, dass dies nicht ewig währt, dass alle sterben müssen, auch die Mutter, der Vater. Und ich, fragt das Kind in Angst vor dem Alleinesein. Du eines Tages auch, wird es getröstet, aber bis dahin hast du noch lange, lange Zeit. Die bittere Medizin im Honig des Vergessens - sie wirkt doch, auch wenn man nicht daran denkt: Wenn man etwas fest halten möchte, was man nicht darf, wenn man künftige Sicherheiten sucht und sich dabei dem Augenblick verschließt, wenn man, scheinbar grundlos, traurig ist ... Wie kann man leben mit dem Wissen um den Tod - davon handelt dieses Buch. Georg, 15, interessiert sich für Astronomie und Musik, wohnt in Oslo, sein Vater ist vor 11 Jahren gestorben. Die Mutter hat wieder geheiratet, Jørgen, und Georg hat eine kleine Schwester bekommen. In der Musikschule trifft er manchmal ein Mädchen, das er nicht anzusprechen wagt. Alles normal. Doch plötzlich dieser Brief ... - Wenn Jostein Gaarder etwas erklären will, denkt er sich gerne Briefe aus. So war es schon in »Sofies Welt«. Der Erfolg dieses »Romans über die Geschichte der Philosophie« in über 40 Sprachen hat ja bewiesen, dass nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene sich gern etwas erklären lassen. Jostein Gaarder war Lehrer, ehe er zum Bestsellerautor wurde. Man merkt es seinen Büchern an. Sein Erfolgsgeheimnis: Unterhaltsame Texte über die großen Fragen, die bei ihm auch groß bleiben. Er schreibt einfach, aber er ist alles andere als oberflächlich. Er kann ein Kasperletheater aufführen, aber er meint es ernst - im Unterschied zu einer Öffentlichkeit, wo viele vorgeben, es ernst zu meinen, aber in Wirklichkeit ist es Kaspertheater. Auch das gibts mitunter: Jemand passt sich dem Zeitgeist nicht an und wird dafür sogar belohnt. Mit Zufällen hatte dieser Autor noch nie Probleme: Der dicke Umschlag, den Georg öffnet, war elf Jahre lang versteckt: Als ob der Vater geplant hätte, dass er ihn genau in diesem Alter lesen würde. Und passender Weise spielt das ganze im November, wenige Tage vor dem Totensonntag, der beim Lesen mitgedacht werden kann. Während sein kleiner Sohn auf dem Fußboden spielte, hatte der Vater für ihn sein Vermächtnis aufgeschrieben. Die Geschichte vom »Orangenmädchen«: Geheimnis um eine Frau, die zu erobern war. »Die Welt ein Funken sprühendes Abenteuer.« Und im Kontrast dazu die Gewissheit, »aus dieser Welt verstoßen zu werden«. Der Vater ist als Arzt ohne Illusion, was seine Krankheit betrifft. »Ich habe Angst vor Abenden wie diesem, die ich nicht leben darf.« Das Unabänderliche, von dem Georg natürlich weiß, das er aber nun erfühlen muss. Ein Riss geht durch den Traum, er würde noch alles vor sich haben. Alles - und doch Nichts am Ende. »Wie viel ist ein Mensch wert? Sind wir nur Staub, der aufgewirbelt und in alle Winde zerstreut wird?« Das fragt sich der Vater, und der Sohn soll sagen, ob es nicht ein sinnloses »Gib-und-Nimm-Spiel« ist. Man wird in eine Zauberwelt gesetzt. »Und dann kommt eine Maus und das Märchen ist aus.« Jostein Gaarder hat schon einmal ein Buch über den Tod geschrieben - »Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort« -, damals aber noch einen Engel bemüht. Hier nun wagte er sich viel weiter in den Bereich der Trostlosigkeiten hinein. Das nicht Lösbare für den Vater, der Schritt ins Nicht-Verlässliche für den Sohn, die Wahrheit der Mutter, die nur ihr alleine gehört (da ist dem Autor wohl bewusst, dass die Frauenwelt eine andere ist als die der Männer) - jenseits der Alltäglichkeiten tun sich neue Grenzen auf, und ganz andere Fähigkeiten sind gefragt als die, welche normalerweise gelernt werden. Da kannst du mit dem Kopf gegen die Wand rennen, kannst schreien, als wärest du in einer Gummizelle. Irrtum. »Es gibt viele Dinge, die ein wenig seltsam sind« - das schreibt Jostein Gaarder übrigens im Zusammenhang mit einem Weltraumteleskop Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. C. Hanser. 188S., geb., 14,90 EUR.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal