An einem trüben, »neblicht nassen« Herbstag vor 200 Jahren endete das Leben von Johannes Bückler auf einer Anhöhe vor den Wällen von Mainz. Er starb nicht allein. Er war umgeben von einigen tausend Menschen, die Zeugen waren, als er am 21. November 1803 mittags kurz nach ein Uhr auf das eigens für ihn errichtete Blutgerüst geführt, auf einem Brett festgeschnallt und damit unter das Fallbeil der Guillotine geschoben wurde. Johannes Bückler war weder der erste Delinquent, der von der französischen Justiz in den gerade erst eroberten rheinischen Départements zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, noch war er in den nachfolgenden zehn Jahren der letzte. Aber Johannes Bückler, der als »Schinderhannes« bis heute unvergessen ist, war zweifellos der bekannteste. Er lebte im Gedächtnis des Volkes weiter als ein ehrenwerter Räuber, der die Reichen und Geizigen bestiehlt und die Armen beschenkt, forsch und unverfroren gegenüber der Obrigkeit, vor allem in Gestalt der Gendarmen, und freundlich und hilfsbereit gegenüber den einfachen Leuten, vorzugsweise jungen Mädchen.
Wenn man heute durch den Hunsrück fährt oder Reiseprospekte dieser liebreizenden Gegend durchblättert, stößt man in fast jedem größeren Dorf auf eine Schinderhannes-Gastwirtschaft, in jeder Kleinstadt auf ein Schinderhannes-Hotel. Wohin man kommt, man kann Schinderhannes-Brot zusammen mit Schinderhannes-Spießbraten essen, dazu noch ein Glas Schinderhannes-Bier trinken, hinterher das ganze Mahl mit einem Gläschen aus der Schinderhannes-Brennerei nachspülen und dabei Schinderhannes-Tabak rauchen. Anschließend kann man, je nach Jahreszeit, entweder auf eine Schinderhannes-Loipe gehen, auf einem Schinderhannes-Rundweg wandern, einen Schinderhannes-Radweg befahren oder an einer Schinderhannes-Rallye teilnehmen.
Dass sich hinter diesem allgegenwärtigen Schelm der lustigen Streiche, der Reiche ärgerte, um Arme zu erfreuen, möglicherweise vielleicht zwei verschiedene Personen und eben auch der historische Gewaltverbrecher Johannes Bückler verbirgt, erfährt man erst, wenn man die überlieferten und sich widersprechenden Lebensdaten vergleicht. Vielleicht ist es aber gerade die Diskrepanz zwischen dem mythischen Hunsrücker Schinderhannes und dem historischen Johannes Bückler, die seit zweihundert Jahren die Menschen immer wieder anregt, sich mit diesem bunt schillernden Räuberhauptmann zu beschäftigen, der nicht nur eine Reihe harmloser Diebstähle und Einbrüche beging, sondern auch brutale Raubüberfälle und Morde.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde verschiedentlich versucht, den Schinderhannes zu einer Art Freiheitskämpfer gegen die französische Besatzungsmacht hoch zu stilisieren. Dies geschah zwar vornehmlich in Romanen, wo man es mit den Fakten nicht so genau nehmen muss, aber dieses Bild entflammte nach dem Ersten Weltkrieg und der erneuten Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen viele Herzen und wurde bald auf den historisch verbürgten Räuber Johannes Bückler übertragen. Dabei ist zwischen 1796 und 1803 keine Handlung oder Tat des Schinderhannes bekannt, die sich in irgend einer Form gegen die französische Besatzungsmacht gerichtet hätte. Im Gegenteil, wie alle anderen Räuber, machte auch er einen großen Bogen um Dörfer, wo er oder seine Kameraden französische Soldaten vermuteten (schon weil diese zu jener Zeit kurzen Prozess zu machen pflegten mit francs-tireurs, wie man damals Partisanen nannte).
Die Räuber, auch der Schinderhannes, wollten Beute machen und nicht kämpfen. Trotzdem wurde das Bild selbst in der Schinderhannes-Biografie von Curt Elwenspoek aufgriffen. Davon angeregt entstand das bekannte Theaterstück von Carl Zuckmayer, dessen munterer rheinischer Rebell deshalb nicht nur die Zeit des Rhein- und Ruhrkampfes, sondern auch des Klassenkampfes zwischen 1920 und 1923 widerspiegelt als die Not- und Kriegszeit zwischen 1800 und 1803 im Hunsrück. Dennoch ist das Bild des Schinderhannes bei den meisten Menschen heute stark geprägt von den romantisch-verklärenden Romanen, Bühnenstücken und Filmen jener Zeit. Damals schrieb sogar der große französische Dichter Apollinaire ein Gedicht über ihn. Und der Schinderhannes-Film von 1928 (Drehbuch Carl Zuckmayer), der im französisch besetzten Rheinland verboten wurde und erst nach Änderungen gezeigt werden durfte, sorgte einmal mehr für diplomatische Verstimmungen zwischen Paris und Berlin.
Schinderhannes blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg präsent: es verwundert nicht, dass der berühmte Hunsrück-Räuber auf manchen Zeichnungen inzwischen eher wie Curd Jürgens im monumentalen Schinderhannes-Film von 1958 aussieht, in dem er zu einer Mischung aus Till Eulenspiegel und Andreas Hofer mutierte. Erst mit diesem Film begann der rheinische Räuber den norddeutschen Seeräuber Klaus Störtebeker zu überflügeln (zu dessen Andenken auf Rügen heute immerhin aufwändige Störtebeker-Festspiele inszeniert werden), den Ruhm des berühmten Wildschützen Mathias Klostermayer zu übertreffen, des »bayerischen Hiasl«, und auch den berüchtigten Räuber Friedrich Schwahn, genannt »Sonnenwirtle«, dem Friedrich Schiller mit seiner bekannten Novelle »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« ein Denkmal gesetzt hatte.
Der seltsame Mythos um den Schinderhannes war schon in den ersten Flugblättern und Zeitungsberichten spürbar, die vor Beginn des Strafprozesses in Mainz 1803 veröffentlicht wurden, wobei sich diese Schriften zumeist bemerkenswert wenig um die tatsächlichen Geschehnisse im - von Frankfurt oder Mainz aus betrachtet - abgelegenen Hunsrück bekümmerten. Der aufwändige Strafprozess, für den jeden Tag an Schaulustige eine begrenzte Anzahl von Eintrittskarten verkauft wurde, die vielen Angeklagten, die fast unüberschaubare Anzahl von Zeugen, die abschließende spektakuläre Massenhinrichtung vor den Toren von Mainz steigerten noch dessen Faszination.
Zweifellos verdankt der Schinderhannes einen Teil seiner Berühmtheit auch seiner ausgeprägten Fähigkeit zur positiven Selbstdarstellung, wobei er sich anscheinend schon gekonnt in Szene zu setzen wusste, als er in Freiheit war. Auch die von ihm gewählte, oder besser gesagt, bevorzugte Selbstbezeichnung »Johannes durch den Wald«, die er sich für die Unterschrift unter seine Erpresserbriefe zulegte, strahlt ein gewisses geheimnisvolles Flair aus. In Kontakt mit anderen war er, wie berichtet wird, sehr charmant und humorvoll. Vor allem besaß er dabei die Fähigkeit, sich seinem jeweiligen Gesprächspartner geschickt anzupassen - was nicht nur junge Frauen sehr anziehend fanden. Selbst während der Gerichtsverhandlung in Mainz wusste er die Menschen auf den Zuschauerbänken für sich einzunehmen. Er war, seit er über die dazu notwendigen Geldmittel verfügte, meist recht sorgfältig und sehr »adrett« nach der neuesten Mode gekleidet und hob sich schon dadurch deutlich von vielen seiner Kameraden und Komplizen ab. Und zum großen Erstaunen der meisten Amtspersonen, die mit ihm zu tun hatten, und des neugierigen städtischen Publikums, das ihn während des Prozesses bestaunte, wirkte er offen und gewandt. Während seiner Vernehmungen legte er meist großen Wert darauf, nicht als Räuber oder Dieb angesehen zu werden. Immer wieder betonte er, er habe nie Gewalt ausgeübt - ganz im Gegenteil, er habe stets versucht, das Schlimmste zu verhüten, wenn seine Kameraden tätlich wurden. Er gab sich große Mühe, als pfiffiger Bursche zu erscheinen. Ein oft zitiertes Beispiel ist die Behauptung, sei er nach einem Einbruch in eine Gerberei in Meisenheim am nächsten Tag dorthin zurückgegangen und habe dem Gerber - der natürlich ein unsympathischer Geizhals war - genau das selbe Leder wieder verkauft, das er diesem in der Nacht zuvor gestohlen hatte. Auf solche Selbst-Aussagen gründet sich auch sein Ruhm vom »Robin Hood von der Nahe«, auch wenn sich seine Erklärungen in den protokollierten »Gegendarstellungen« der Opfer sich nicht so freundlich reflektierten, sie gar von Folter sprachen.
Man muss letztlich feststellen, dass zwischen dem schalkhaften »Robin Hood des Hunsrücks« im Gedächtnis des Volkes und dem realen Räuber Johannes Bückler ein fast unüberbrückbarer Gegensatz besteht. All die lustigen Anekdoten beruhen bestenfalls auf nicht nachprüfbaren Geschichten vom Hörensagen, ein anderer Teil auf Berichten, die von anderen Räubern auf den Schinderhannes übertragen wurden, und ein nicht unbeträchtlicher Rest dürfte gut erfunden sein.
Vom Mainzer Historiker erschienen eine »Schinderhannes-Chronik« und ein »Schinderhannes-Ortslexikon« (Verlag Ernst Probst, Im See 11, 55246 Mainz-Kostheim, Tel: 06134/21152).
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