Weinst Du oder lachst Du, schläfst Du oder wachst Du?
Vor 183 Jahren wurde Engels geboren, Marxens bester Freund
Heute abend fällt im ZDF die Entscheidung, wen die Deutschen als »Unseren Besten« erachten. Und heute ist auch der Geburtstag von Friedrich Engels; er erblickte am 28. November 1820 in Barmen als Sohn eines Textilfabrikanten das Licht der Welt. Wer Engels ehren möchte, sollte in den nächsten Stunden noch einmal (oder auch zwei oder drei Mal) seine Stimme für Karl Marx abgeben. »Dear Fred« hätte es so gewollt. Denn die Freundschaft zwischen beiden war eine ganz besondere, wie unser Autor, Engelsbiograf, im Folgenden erinnert.
Im Spätsommer 1844 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Karl Marx und Friedrich Engels in Paris. Engels macht auf der Rückreise von Manchester nach Barmen in der Seine-Metropole Halt, wo Marx seit einem knappen Jahr lebt. Beide sind zu dieser Zeit heftig verliebt: Karl in sein »Wackerchen«, in Jenny, die zur Vorstellung ihres ersten Töchterchens ins heimatliche Trier gereist war; und Friedrich in Mary, seine »wilden Rosen« gleichende Schönheit mit den »schwarz verwegnen Blicken«. An die zehn Tage und so manche halbe Nacht debattieren die beiden, tauschen Einsichten und Überlegungen aus, ergötzen sich an Rede und Gegenrede. Die Freude über die Einigkeit in vielen Ansichten und über die theoretische Übereinstimmung ist groß. Und sie stellen fest: Sie harmonieren wunderbar miteinander, einer möchte des anderen Freund sein. So entsteht ein Männerbund, der über Jahrzehnte unzertrennlich bleiben soll. Gemeinsam machen sie sich ans Werk, schreiben zunächst zusammen die »Heilige Familie« (1844/45), dann die »Deutsche Ideologie« (1845/46). Ihre Bestandsaufnahme und Analyse der kapitalistischen Gesellschaft mündet in der Einsicht, dass nur auf der Grundlage einer ausbeutungsfreien Gesellschaft wahrhaft menschliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen den Individuen, zwischen den Völkern erreicht werden können. »Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden«, proklamieren sie, der eine 25-jährig, der andere 27-jährig. Menschlich und großzügig gestaltet sich ihre Beziehung zueinander. Der Fabrikantensohn hilft dem unbestallten Gelehrten in einem uneigennützigen Maße, wie es heute seinesgleichen sucht. Oft sieht Marx in Engels die letzte Hoffnung, die schlimmste Not für seine Familie in schwieriger Emigrantenzeit zu mindern und zu lindern. »Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank. Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe«, heißt es in einem alarmierenden Brief an Engels vom 8. September 1852. »Seit 8-10 Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.« Engels Antwort tags darauf besteht in vier Pfund Sterling. In den folgenden Jahren schickt er, zunächst sporadisch, dann immer regelmäßiger, Monat für Monat, manchmal auch Woche für Woche Ein-, Zwei-, Fünf- oder Zehnpfundnoten von Manchester nach London. Kaum weniger wichtig ist Engels Beistand, wenn es gilt, der - wie Marx es nennt - »gebieterischen Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit« zu genügen. Im August 1851 fragt Charles Dana von der »New-York Daily Tribune« bei Marx an, ob er für das Blatt schreiben könne. Marx sagt zu, weil sich ihm damit endlich die Möglichkeit bietet, seiner Familie ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen zu sichern. Die journalistische Arbeit raubt ihm jedoch Zeit, die er für seine Studien zur politischen Ökonomie benötigt. Zudem beherrscht er die englische Sprache noch nicht so perfekt, dass er in ihr publizieren kann. So wendet er sich an Engels um Hilfe: »Wenn es Dir möglich ist, mir einen englisch geschriebnen Artikel über die deutschen Verhältnisse bis Freitag morgen zu liefern, so wäre das ein famoser Anfang.« Ein paar Tage später kommt prompt des Freundes Antwort: »Lieber Marx, Du erhälst hierbei einen beliebigen Artikel. Verschiedne Umstände haben konspiriert, das Ding schlecht zu machen... Enfin, tu en feras ce que tu voudras (Kurzum, mach damit, was Du willst).« Das angeblich schlecht geratene »Ding« ist der erste Artikel von insgesamt 19 Beiträgen, die bis Oktober 1852 in der »New-York Daily Tribune« erscheinen und 1896 zunächst in englischer, dann deutscher Sprache in Buchform unter dem Titel »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« herauskommen. Fast über ein Jahrzehnt schreibt Engels auf Marxens Bitte über 120 Artikel. Zudem steuert er Material zu dessen Beiträgen für die »New-York Daily Tribune« bei oder übersetzt dessen Manuskripte. Der Freund hilft auch durch ständigen moralischen Zuspruch. Noch im Frühjahr 1851 hofft Marx, sein geplantes Werk über die Ökonomie des Kapitalismus in wenigen Monaten niederschreiben zu können. Schon bald muss er erkennen, dass dies unmöglich ist - wegen der Materialfülle, die kritischer Verarbeitung bedarf, wegen der Unterbrechungen durch den journalistischen Broterwerb sowie den tagtäglichen aufreibenden Kampf gegen Hungersnot in der Familie. Doch Engels drängt und mahnt unablässig: »Sei endlich einmal etwas weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegenüber; es (Das Kapital) ist immer noch viel zu gut für das Lausepublikum. Daß das Ding geschrieben wird und erscheint, ist die Hauptsache; die Schwächen, die Dir auffallen, finden die Esel doch nicht heraus.« Auf solchen Rat hört Marx ebenso wenig, wie Engels darauf insistiert. Die beiden Männer, die einander Anreger und Kritiker sind, leiden unter der räumlichen Trennung, die tägliches geistiges Geben und Nehmen erschwert. Ihr intensivster Briefwechsel vermag dies nicht wettzumachen. London und Manchester liegen zwar nur etwa acht Bahnstunden voneinander entfernt, und einen Brief, den der Eine gegen Abend aufgibt, kann der Andere meist schon am folgenden Vormittag lesen. Und doch, das tägliche Gespräch fehlt. Marx wie Engels ist es stets ein Fest der Freude, wenn sie einander besuchen können. Engels weilt mehrmals während der Weihnachts- und Neujahrstage bei der Familie Marx und macht während seiner Reisen zum Kontinent so oft wie möglich beim Freund Station. In den Stunden vertrauten Beisammenseins verdrängen die Freunde »allen Teufelsdreck« des Flüchtlingslebens. Sie genießen das Glück zu debattieren, Pläne zu schmieden, wissenschaftliche Vorhaben zu besprechen - zu scherzen und zu zechen. Die Forschung ist den von beiden als widrig empfundenen Umständen dankbar, kann sie doch aus einem an Quantität und Qualität einzig dastehenden Briefwechsel schöpfen. Selten verging eine Woche, in der sich die Freunde nicht schrieben. Kam es einmal zu einer längeren Pause, so hieß es gleich besorgt: »Lieber Engels, weinst Du oder lachst Du und schläfst Du oder wachst Du? Auf verschiedne Briefe, die ich seit 3 Wochen nach Manchester geschickt, keine Antwort erhalten.« Es gibt keinen Wissenschaftsbereich, der in ihrer brieflichen Korrespondenz nicht behandelt oder zumindest gestreift wurde: Fragen der Philosophie und der Naturwissenschaften, der Kriegsgeschichte und Militärtheorie, der Sprachwissenschaften und Mathematik, der Technik und Literatur und immer wieder vor allem Probleme der politischen Ökonomie, Geschichte und internationalen Politik. Und natürlich auch viel Persönliches. Nach dem Tod von Marx 1883 ordnete Engels den Nachlass des Freundes und stieß auf viele schon vergessene Briefe. Er schrieb sogleich an Johann Philipp Becker: »Da ist mir die alte Zeit wieder einmal recht lebendig vor den Augen vorübergegangen und der viele Spaß, den wir an unsern Gegnern erlebt haben. Ich habe oft Tränen lachen müssen über diese alten Geschichten, den Humor haben sie uns doch nie vertreiben können. Dazwischen denn auch manches sehr Ernste.« Und in einem weiteren Brief, gemünzt auf einen Redakteur der »Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen«, der über den »kummervollen Marx« lamentiert hatte: »Wenn diese Ochsen Gelegenheit hätten, den Briefwechsel zwischen dem Mohr und mir zu lesen, es würde ihnen Hören und Sehn vergehn. Heines Poesie ist Kinderei gegen unsre freche landende Prosa. Wütend konnte der Mohr w...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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