Amoklauf der Militärs

Die Zabern-Affäre vor 90 Jahren

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Dezember des Jahres 1913 wusste in Deutschland und Frankreich jeder Zeitungsleser, wo das Städtchen Zabern (Saverne) liegt: im Elsass, nordwestlich von Straßburg. In Zabern waren der Stab und zwei Bataillone des deutschen Infanterieregiments 99 stationiert, und am 28. Oktober 1913 hatte ein junger Offizier, der 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner, für Aufsehen gesorgt. Er hatte seine Soldaten während einer Instruktionsstunde über den Umgang mit Zivilisten belehrt und zu ihnen gesagt: Falls sie während des Stadtgangs von Zivilisten behelligt würden, sollten sie vom Bajonett Gebrauch machen. Dann hatte er sich direkt an einen Rekruten gewandt, der wegen Messerstecherei vorbestraft war, und erklärt: »Und wenn Sie dabei so einen Wackes über den Haufen stechen, so schadet es nichts. Sie bekommen von mir dann noch zehn Mark Belohnung.« Mit seiner Äußerung verstieß Forstner gegen einen Regimentsbefehl vom Jahre 1903, durch den der Gebrauch des Schimpfwortes »Wackes« strengstens verboten war. Unter den Rekruten waren auch einige Elsässer, und die informierten die Redaktion des »Zaberner Anzeigers«. Elsass und der östliche Teil Lothringens waren 1871 vom Kaiserreich annektiert worden. Elsass-Lothringen besaß nicht die Rechte der deutschen Bundesstaaten, sondern wurde als »Reichsland« von preußisch-deutschen Beamten regiert. Die Truppenteile, in denen die jungen Elsässer dienten, wurden von preußischen Offizieren befehligt. Die meisten Beamten und Militärs aus dem alten Reichsgebiet zeigten im Umgang mit den Elsässern wenig Fingerspitzengefühl - und viele Elsässer empfanden sie als Besatzer. Als der Vorfall durch Zeitungsmeldungen bekannt wurde, legte der Kommandeur der 99er, Oberst Adolf von Reuter, eine unsägliche bornierte Haltung an den Tag. Er provozierte die Einwohner von Zabern noch zusätzlich, indem er Patrouillen mit aufgepflanztem Bajonett und scharfer Munition durch die Stadt streifen ließ. Als die Soldaten verspottet und ausgelacht wurden, ließ der Oberst wahllos etwa 30 Bürger verhaften. Versehentlich wurde sogar ein Landgerichtsrat festgenommen. Die Verhafteten wurden misshandelt und die Nacht über im Kohlenkeller der Kaserne eingesperrt. Reuter hatte sich damit der Amtsanmaßung, Freiheitsberaubung und Nötigung schuldig gemacht. Am 3. und 4. Dezember kam es dann im Reichstag zu stürmischen Auftritten. Reichskanzler Bethmann Hollweg billigte die Exzesse keineswegs. Mit Rücksicht auf Kaiser Wilhelm II. und die Generalität führte er aber einen Eiertanz auf und suchte die Ausschreitungen der Militärs in Zabern zu bagatellisieren. Richtig in Rage kam der Reichstag dann durch die Rede des Kriegsministers von Falkenhayn. Der General behauptete mit eiserner Stirn, für die Zuspitzung der Situation in Zabern seien »lärmende Tumultanten« und »hetzerische Presseorgane« verantwortlich. Am 4. Dezember wies ein sozialdemokratischer Abgeordneter den Kanzler auf die Divergenzen zwischen seiner Rede und der Falkenhayns hin. Bethmann Hollweg erklärte daraufhin: »Ich stehe in vollem Einvernehmen mit dem Herrn Kriegsminister!« Der Reichstag raste und sprach dem Kanzler mit 293 zu 54 Stimmen eine Missbilligung aus. Seinen Hut musste Bethmann Hollweg nicht nehmen, denn laut der Reichsverfassung war der Kanzler nur vom Vertrauen des Kaisers abhängig. Reuter und Forstner wurden vor ein Kriegsgericht gestellt - und freigesprochen. Wilhelm II. verlieh Reuter demonstrativ den Roten Adler-Orden III. Klasse. Der Eindruck, den die Affäre im In- und Ausland hinterließ, war verheerend. Demonstriert war, dass im deutschen Kaiserreich Regierung und Parlament gegenüber dem Militärapparat machtlos waren.

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