Der Schlüssel

In Ebrach leben Menschen hinter Gittern, viele unfreiwillig, manche freiwillig

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: ca. 10.5 Min.
Das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann, ist, ihn zu töten. Das Zweitschlimmste ist: ihm seine Freiheit zu nehmen. In einem alten Klostergebäude im fränkischen Ebrach leben 350 junge Männer. Unfreiwillig. Sie haben gemordet, vergewaltigt, mit Drogen gedealt, gestohlen. Bayerns größter Jugendknast. In der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ebrach sitzen die besonders schweren Fälle, die Wiederholungstäter, und die, die mindestens drei Jahre in den »Bau« müssen. Der Jüngste ist 17, der Älteste 24 Jahre alt. 350 Menschen mit einer Vertrauen erweckenden Anschrift: Marktplatz 1, 96157 Ebrach.
Seit 1851 gibt es inmitten des Steigerwalds diesen Knast in einem ehemaligen Zisterzienser-Kloster. Generationen von Verbrechern saßen seitdem dort ein, und Generationen von Ebrachern leben seitdem mit und von den Gefangenen. Einmal im Monat packt der EDEKA-Händler seinen Laden zusammen und zieht 100 Meter weit über die Straße in den Knast. Einmal im Monat dürfen die Gefangenen bei ihm einkaufen. Die Häuser am Berghang sind heimelig. Nicht zu protzig, nicht zu klein. Dort wohnen die, die nur acht Stunden am Tag ins Gefängnis müssen.
350 zwangsweise Zugezogene in Nachbarschaft zu 1500 Alteingesessenen. 1500 Menschen, die frei entscheiden können, ob sie um 22 Uhr aufstehen und ein Buch lesen, fernsehen oder einfach nur zum Kühlschrank gehen, um sich ein Bier zu holen. Die 350 hinter den barocken Klostermauern können das nicht. Um 22 Uhr wird jeden Abend das Licht gelöscht. Dunkelheit auf acht Quadratmetern - bis sechs Uhr am nächsten Tag.
Eine JVA ist eine kleine Welt in der Welt. Es gibt eine Bäckerei, eine Großküche, Maler, Schreiner, Lehrer, Vollzugsbedienstete. Menschen mit einer ordentlichen Berufsausbildung, einem ordentlichen Schulabschluss. Von den Einsitzenden sind 14 Prozent Sonderschüler, 36 Prozent haben keinen, die gleiche Zahl nur einen einfachen Hauptschulabschluss. Einen Beruf gelernt haben keine neun Prozent. Etwa 20 werden nach Verbüßung ihrer Haftzeit einen Hauptschulabschluss in der Tasche haben. Einige werden eine Lehre absolviert haben. Eine Minderheit. Kann der Knast einen Menschen wieder zu einem guten Menschen machen? Anstaltsleiterin Renate Schöfer-Sigl ist sich nicht sicher. »Bei vielen geht es nicht um Resozialisierung, sondern erst einmal um Sozialisierung.«
Die 350 sind hier eingesperrt, damit wir vor ihnen geschützt werden. Doch wer ohne Freiheit ist, braucht manchmal selber Schutz - Schutz vor der nach Extremen lechzenden Medienwelt, die ihr verletzbares Innerstes nach Außen stülpt und unschuldig die Arme hebt, wenn das so Entblößte öffentlich seziert wird. Opfer und Täter sind ihr gleich, jeder wird ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, ob er will oder nicht. »Keine Gespräche mit Gefangenen, keine Fotos.« Diese eiserne Regel wird dem Journalisten mehrfach in Erinnerung gerufen. Verbrecher haben Rechte, Persönlichkeitsrechte!

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In einer JVA geht es nicht in erster Linie um Gerechtigkeit, sondern um deren Vollzug. Gerechtigkeit ist eine schwere Last. Für die, die da einsitzen, für ihre Opfer, denen sie Leid, Schmerzen gebracht und Unrecht getan haben. Schuldig sind die meisten. Unschuldig Verurteilte gibt es selten, sagt Wilfried Geyer, 47 Jahre, seit 1997 als evangelischer Anstaltsseelsorger in Ebrach. Sein wichtigstes Utensil: Ein großer, klobiger Schlüssel. Ein Schlüssel, der Macht verleiht. Er passt zu allen Türschlössern. Er unterscheidet die Vollzugsbeamten, Sozialarbeiter, Psychologen, Seelsorger von den Häftlingen. Seelsorge beginnt mit Routine. Sich bei der Torwache anmelden, Stechkarte ziehen, Stechkarte lochen, wieder zurückstecken. Dann den Schlüssel aus dem Fach holen. Hier ist alles abgeschlossen, jede noch so kleine Besenkammer kann nicht ohne diesen Schlüssel betreten werden.
Schlüsselgewalt bedeutet Freiheit! Gewalt, sagt Wilfried Geyer, sei nicht nur verurteilenswert. »Wir brauchen die Gewalt, die die Ordnung aufrecht erhält.« Draußen in Freiheit ist diese Gewalt oft unsichtbar, versteckt sich meist hinter unausgesprochenen Gesetzen. Hier drinnen im Zellenbau ist diese Gewalt offensichtlich. Für alles braucht es eine Genehmigung - fürs Duschen, Lesen, Fernsehen. Wer gegen die Regeln verstößt, bekommt Arrest - einen Tag oder zwei Wochen, je nach Schwere des Delikts. Wenn er Pech hat. Wenn er Glück hat, kommt er mit Aufschlusssperre davon, das heißt, er muss in der verschlossenen Zelle bleiben, während die Mithäftlinge für eineinhalb Stunden am Tag in ihrer Zelle ein und aus gehen dürfen. Die Anlässe mögen für Außenstehende banal sein, hier drinnen sind sie es nicht. »Wer zu viel Kleiderstücke in seiner Zelle hat, bekommt mindestens zwei Tage Aufschlusssperre«, steht an der Wand im Zellenflur geschrieben.

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Gewalt und Gegengewalt - hier sind sie an einem Ort konzentriert. Wer in den Knast muss, hat anderen Menschen Gewalt angetan. Wer hier arbeitet, muss bereit sein, anderen Gewalt anzutun. Nur wenige werden freiwillig einsichtig, etwas Falsches getan zu haben. Der Psychologe vertritt Staatsgewalt ebenso wie der Vollzugsbeamte, der nötigenfalls auf flüchtende Gefangene schießen muss. »Wir hatten mal einen Bewerber für den Vollzugsdienst«, erzählt Renate Schöfer-Sigl, der gab beim Einstellungsgespräch an, auf keinen Flüchtenden schießen zu wollen. »Den mussten wir ablehnen. Wer hier arbeitet, muss auf Menschen schießen können. Auf die Füße, damit er nicht weglaufen kann.« Wer möchte schon mit der Last der Schuld leben, wenn einer einen anderen umbringt und man es hätte verhindern können, hätte man diesem einen in die Füße geschossen.
Wie lebt man mit dem Gedanken, einmal in solch eine Lage kommen zu können? Vielleicht so wie Klaus Kroack, Malermeister und in der JVA Ebrach für den Grundlehrgang »Malen« zuständig. Ein Pädagoge in Uniform, einer, der noch Begeisterung für seinen Lehrberuf aufbringt, der sich an den Leistungen seiner Schützlinge noch erfreut, der jedes noch so kleine Talent aus den Gefangenen herauskitzelt. Eine Autorität.
Als ich den Raum betrete, unterbricht er den Unterricht. Er beginnt, mir seine Arbeit zu erklären, wird euphorisch, zeigt Klassenarbeiten, Abschlussprüfungen. Den sechs Häftlingen muss er keine Befehle erteilen, kein: Ihr macht jetzt, solange ich mit Herrn Amendt rede, dies oder das! Die Jungs suchen sich eine Beschäftigung, während wir reden. Eine vorbildliche Klasse - nicht nur für den Knast. An der Wand: Schilder, auf denen in sauberen Druckbuchstaben von den Lehrgangsteilnehmern Lebensweisheiten festgehalten wurden. Weisheiten, die sie sich selbst ausgesucht haben oder die Herr Kroack für sie aus Zeitungen ausgeschnitten hat. »Schäme dich keiner Arbeit, von der du leben kannst«, lautet ein per Hand aufgemalter Spruch. Ein anderer: »Es gibt drei Möglichkeiten, um leben zu können: betteln, stehlen und etwas leisten.« Leistungsgesellschaft Knast.
Leistung benötigt Stabilität, Verlässlichkeit. Für Harald Hillmann wichtige Eigenschaften eines Gefangenen. Der gelernte Schreinermeister leitet seit einem Jahr die Schreinerwerkstatt auf dem Gelände. Von seinem gläsernen Büro aus kann er nur einen Teil der Werkstatt überblicken. Ein Kollege ist immer in der Werkstatt. Man weiß ja nie. Es klopft. Ob er einen Hammer haben könne, fragt ein junger Mann. Herr Hillmann schließt den Schrank auf und gibt ihm den Hammer. Hier braucht man für alles einen Schlüssel - selbst für einfaches Werkzeug. Mit Häftlingen, die eine längere Haftstrafe absitzen müssen, den »Langstrafigen«, arbeitet er am liebsten, sagt Harald Hillmann. Mit denen sei ein kontinuierliches Arbeiten möglich. Auch sei bei ihnen die Gefahr gering, dass sie zu Wiederholungstätern würden, »schließlich bleiben die lange im Knast«. Die »Langstrafigen«, das sind in der Regel die Mörder. Mord als Vorteil? Sieht er nicht die Gefahr, die Distanz zu den jugendlichen Tätern zu verlieren? Die Gefahr bestehe, meint Herr Hillmann, man müsse aufpassen, dass das Verhältnis nicht zu eng werde. »Schließlich stehen wir auf zwei verschiedenen Seiten.«
In der Welt da draußen, in der ein Schlüssel nur ein Schlüssel ist, ist die Gefahr gering, Opfer einer Straftat zu werden - statistisch gesehen. Hier drinnen kann sie bedrohlich konkret werden. 1992 gab es eine Geiselnahme in der JVA Ebrach. Ob er manchmal daran denkt, Angst hat, wenn er zur Arbeit geht? »Angst habe ich keine«, sagt Harald Hillmann. Anfangs habe er sich noch Gedanken gemacht, doch das habe sich gelegt. Der Knast, versichert er mir, ist ein sicherer Platz. Betroffen von der Gewalt seien in der Regel eh nicht die Bediensteten, sondern die Mitgefangenen. Nur, das bekomme man selten mit. »Wenn einer zusammengeprügelt wird, dann hält der dicht, sagt nichts. Ist halt die Treppe runtergefallen oder gegen einen Betonpfosten gerannt.«

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Die Angst vor Gewalt kann man in rationale Bahnen lenken. Anders ausgedrückt: Wer mit der Gewalt lebt, hat gelernt, sie in Argumente zu fassen, seinen Verstand einzuschalten, damit der Bauch seine Alarmsignale nicht erst senden kann. Renate Schöfer-Sigl sagt, sie kenne keine Angst. Die Regierungsdirektorin leitet seit knapp einem Jahr die JVA Ebrach, 1985 war sie die erste Juristin im Männervollzug in Bayern. Vorher war sie Rechtsanwältin. »Da wird man schon etwas abgebrüht.« Die Gefangenen seien ihr gegenüber immer höflich, korrekt im Umgangston. Kraftausdrücke werden tunlichst vermieden. Auch der Knacki bewahrt Etikette, wenn ein Weiberrock vor ihm steht. Wenn der nicht zu kurz geraten ist. Im Mini-Rock die Knast-Gänge entlang zu schlendern, hält Frau Schöfer-Sigl für wenig ratsam. »Man muss wissen, wie man sich verhalten muss, um sich zu schützen.« Das sei doch draußen nicht anders. »Wenn ich nachts nach Hause gehe und kann mich zwischen der unbeleuchteten Straßenseite und der beleuchteten entscheiden, wähle ich doch auch immer den beleuchteten Gehsteig.«
Vorsicht ist erstes Gebot. Ein unsichtbares Gebot. Keiner spricht es deutlich aus, doch jeder handelt danach. Wilfried Geyer zum Beispiel. Um zu seinem Büro - zwei zu einem Raum umgebaute Zellen - im Zellentrakt gelangen zu können, müssen wir sieben Türen durchschreiten. Und vor jeder hält der Knastpfarrer inne, um mir den Vortritt zu lassen. In der JVA Ebrach geht gutes Benehmen eine Allianz mit notwendigem Sicherheitsdenken ein. Sie gehe prinzipiell hinter den Gefangenen, wende ihnen nie den Rücken zu, erklärt Wilfried Geyers Chefin Renate Schöfer-Sigl.
Den Gefangenen nie den Rücken zuwenden. Dieses Leitmotiv gilt auch für Wilfried Geyer und seine Kollegen: Therapeuten, Pädagogen, Drogenberater. »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« So steht es im Grundgesetz, und so gilt es auch für Verbrecher. Doch wo beginnt das Verständnis, das Sich-Eindenken in die Seelenwelt eines Gefangenen, die Nähe, die ein Therapeut für erfolgreiches Arbeiten braucht, in Distanzlosigkeit, falsche Sympathie umzuschlagen? Was denkt man, wenn man abends nach Hause kommt, seine Kinder mit Küsschen begrüßt und nur wenig vorher eine Stunde lang allein mit einem Kindesmörder in einem Raum zugebracht hat? Die Mauern im Knast müssen hoch sein - die in den Köpfen dürfen es nicht sein! Drum herum braucht es einen Panzer, um sich zu schützen. Vladimir Sparber hat so einen Panzer. Der Endfünfziger ist als Lehrer in Ebrach tätig. Früher, so erzählt er, habe er die Personalakten seiner Schüler gelesen. »Heute mache ich das nicht mehr.« Warum? »Weil ich nicht wissen will, was die auf dem Kerbholz haben, ich will nicht ungerecht werden, jemanden für das, was er getan hat, nochmal bestrafen.«

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Ein Sozialarbeiter betreut in der JVA Ebrach 50 Gefangene. Ein schlechter Schnitt, wenn man bedenkt, dass es im Justizvollzug auch darum geht, Straftäter wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ein guter Schnitt, wenn man die Zahlen aus dem Erwachsenenstrafvollzug in Bayern kennt. Ein Sozialarbeiter muss sich dort oft um 150, manchmal gar um 350 Gefangene kümmern.
Im Jugendknast ist alles ein wenig besser. Hier kann man sich noch Hoffnung machen, dass eine kriminelle Karriere ein frühes Ende findet. 50 Mal muss sich ein Sozialarbeiter mit Geschichten auseinander setzen, die so ähnlich sind wie diese: Als Kind vom Vater geschlagen, Drogenkonsum, Diebstahl, Raubüberfall in Tateinheit mit Körperverletzung. Missbrauchserfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Lebensgeschichten junger Straftäter, weiß Bruno Betz, Psychologe in der JVA Ebrach.
Arbeiten mit Gefangenen heißt auch: Sich abgrenzen können. Vor allem, wenn einer wieder und wieder die gleiche Tat begeht oder nicht einsehen will, dass es Unrecht ist, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Jeder geht mit dieser psychischen Grenzerfahrung anders um. Es gibt Bedienstete, erzählt Wilfried Geyer, die denken sich: Denen geht es hier noch zu gut, die sollen büßen für das, was sie getan haben. Es gibt allerdings auch solche, die das Gefängnis als Arbeitsstelle wie jede andere begreifen. Die sich nicht fragen, warum die Welt und die Menschen so schlecht sind. Sie sind es eben, basta! Normalität im Unnormalen. Das geht etwa so. »20 Mal Fleisch, sieben Mal vegetarisch, fünf Mal Moha«, sagt der Beamte der Küche durch. »Moha«, erklärt er mir, »steht für Mohammedaner, also Essen für Islamisten.« »Muslime«, korrigiert ihn Wilfried Geyer. »Na gut, dann halt für islamistische Muslime, damits recht ist«, brummt der Oberwärter. Wilfried Geyer lächelt. So richtig böse kann er dem Mann nicht sein. Und auch der scheint die Sache nicht allzu ernst zu nehmen. Ein Knast kann der normalste Ort der Welt sein - wenn man den richtigen Schlüssel hat.

Gewalt
Was ist Gewalt,
ist sie brechend und kalt.
Sind es Wörter aus dem Mund,
die Wörter, die schlagen,
statt Fäuste, die sagen,
ich hasse dich.
Ist es die Macht zu regiern,
wo Menschen marschiern,
in den sicheren Tod,
mit Folge - die Not.
Ist es unterdrücken,
die Menschen zu bücken,
mit Fäusten im Nacken,
sie wieder zu hacken.
Sagen wir so,
Gewalt macht nicht froh,
ob mit Worten oder Kraft,
Gewalt ist das,
was jeder alleine schafft....

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