Das Unaussprechliche
Mariam Notten erzählt afghanische Geschichten
Hör gut zu, meine Tochter«, hatte die Mutter gesagt. »Das sind Geschichten, die nicht jeder Frau jeden Tag passieren. Merk sie Dir genau. Und wenn Du groß bist, schreibst Du sie in ein Buch.« Die stolze und selbstbewusste Frau hatte ihr, die nicht das Kind des gehassten Ehemanns war, den Namen der afghanischen Jeanne d'Arc gegeben, jenes Mädchens, dessen Anwesenheit auf dem Schlachtfeld bei Maiwand 1852 der Sieg über die Briten zu verdanken sein soll - Malalei.
Mariam Notten - so heißt sie in in Europa - wurde 1948 in Kabul geboren und lebt seit 1967 in Deutschland; sie ist Soziologin. Die Co-Autorin, Erica Fischer, als Kind von Emigranten 1943 in England zur Welt gekommen, ist professionelle Schriftstellerin. Das Buch erscheint wie aus einem Guss, als würde Erica Fischer, die nie in Kabul war, die Atmosphäre einer Gasse dort kennen wie ihren eigenen Ort. Verschiedenartiger Stoff wird dargeboten: Lebensgeschichten aus der großen Familie zunächst, dann das Leben in der Fremde, und, auf die Gegenwart zu, mehr und mehr direkt Politisches. Begebenheiten und Erörterungen sind durch die emotionale Tonart des Buches verbunden: souveräne Distanz der Erzählerin, auch zu sich selber, oft mit ironischer Note, aber in Einklang mit herzenswarmer Liebe zu ihrem schönen, gepeinigten Land - eine seltene, beeindruckende Mischung.
Die Erzählung beginnt mit der Ermordung der Urgroßmutter durch ihren Ehemann. Er hatte einen jungen Mann in der Gasse gesehen, der dort nicht wohnte und nicht am Freitagsgebet teilgenommen hatte, seine Frau fand er untätig im Zimmer. Erklärungen wartete er nicht ab, er schoss; das hätte er vielleicht unterlassen, wenn er den Nachhauseweg ohne den Nachbarn gemacht hätte. Als er Beistand für die Leichenwäsche holte - den Schuss hatten alle gehört -, gab er an, seine Frau habe das Gewehr gereinigt, da habe sich ein Schuss gelöst. Niemand glaubte es, alle schwiegen. Auch für das Unausgesprochene ist Blutrache Pflicht. Der verdächtigte junge Mann, Sohn einer reichen Familie, bekommt zwei Leibwächter. Der Urgroßvater redet nicht mehr; seine zwei Söhne wissen, was sie ihm schuldig sind. Der Auszug der Familie nach Kabul wird unauffällig vorbereitet, und eines Freitags, nachdem sie den Platz des dem Gesetz Verfallenen in der Moschee erkundet haben, fallen Schüsse. Später wird genauso wie seine Frau sein Sohn enden. - Diesmal schoss die Frau, Mariams Großmutter. Als ihr klar wurde, dass ihr Ehemann von ihrem Verhältnis weiß, blieb ihr nichts übrig, als ihn zu töten, um den ehernen Regelkreis von verletzter Ehre und Blutrache zu durchbrechen - wieder hatte sich »beim Gewehrputzen« ein Schuss gelöst. Vielleicht gehört zu den ungeschriebenen Sittengesetzen das Verschweigen, das Mord verbirgt, aber auch geringere Verstöße. Mariam Notten braucht den Ausdruck »das Unaussprechliche« - im Zusammenhang damit, dass die Mutter das Mädchen beauftragt, eine bestimmte Pflanze zu suchen, deren Wurzel sie zu sich nimmt. Nach ein paar qualvollen Tagen im Bett händigt sie der Tochter ein weiches Bündel aus, das sie vor der Stadt vergraben soll. Beim dritten Abort stirbt die 38-Jährige. Geheimnisse des Frauenlebens - die Autorin hat den Mut und die Fähigkeit, sie zur Sprache zu bringen.
In der orthodoxen Familie der Autorin ereignet sich unter den Frauen erstaunlicher Aufruhr. Mariams jüngste Schwester funktioniert nicht wie vorgesehen: Sie ist wild aufgewachsen und lässt sich nicht zähmen. Später, als sie doch verheiratet ist, gibt es in den politischen Machtkämpfen Denunziationen, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Mord. Sie wird ohne Wissen ihres Ehemanns zur Widerstandkämpferin, aber übersteht kaum die peinigenden Stationen der Flucht und das Entwürdigende des Flüchtlingsdaseins. Auch Malalei verfügt über Kenntnisse und Willensstärke, um sich nicht dem Alten, Versteinerten zu unterwerfen, bis sie eines Tages sagt: »Ich hatte Afghanistan satt.«
Zunächst erzwingt sie, dass sie auf die Liste der fünfzehn Abiturientinnen kommt, die in die BRD zur Ausbildung als Krankenschwester geschickt werden. Hier ändert sich die erzählerische Optik. Deutsches aus dem Blick einer anderen Kultur - das ist noch selten aufgeschrieben worden und unerhört lesenswert. 1978 gibt es einen Putsch gegen Regierungschef Daud, Afghanistan wird zur sozialistischen Volksrepublik erklärt. Hier versucht Mariam Notten, »die politische Entwicklung in Afghanistan zu rekapitulieren«, was im Rahmen einer Familiengeschichte kaum befriedigend zu leisten ist. Gegner der demokratischen Bewegungen in Afghanistan waren ja nicht allein Mullahs und Stammesfürsten, das Land befand sich auch im Spannungsfeld ausländischer Mächte. Noch bis ins zwanzigste Jahrhundert behauptete sich die ehemalige britische Kolonialmacht, Russland war ebenfalls aktiv. Schließlich prallten die Interessen im Kalten Krieg aufeinander. Mariam Notten bekennt einen ungeheuren Hass auf die »Sowjets«. Gegen die Regierung der afghanischen Volkspartei, von der Sowjetunion abhängig, richtete sich nicht erst seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen Widerstand. Der ging nicht vorrangig von den Demokraten aus, sondern von den Mudschahedin, unter denen sich Machtkämpfe abspielten. Bündnisse wechselten - Pakistan spielte dabei eine Hauptrolle. So wurden schließlich die Taliban Sieger.
Ich war in Kabul, als dort bereits die Boden-Boden-Raketen der Mudschahedin einschlugen und der Abzug der sowjetischen Militärs begann, 1988. Ohne Sprachkenntnisse, auf Englisch angewiesen oder auf den außerordentlich kooperativen Dolmetscher, mussten meine Erkenntnisse beschränkt bleiben. Das Waisenhaus, die Schule, der Basar, die Bibliothek mit den schönen Handschriften - der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, parteilos, die Vorsitzende des Frauenverbandes, parteilos, eine von den ersten vier weiblichen Abgeordneten im ersten Parlament 1965. Mir schien, es gebe viele Bemühungen, die anerkennenswert waren. Zur konfliktreichen Geschichte des Landes gehörte übrigens ein Freundschaftsvertrag 1920 mit Sowjetrussland, zu dem der Außenminister unter dem Reformkönig Amanullah, Mahmud Beg Tarzi, ein Gelehrter, der sein Land öffnen wollte, an seinen russischen Kollegen Tschitscherin schrieb, dass »die gemeinsame Politik des Sturzes des imperialistischen Despotismus in der ganzen Welt, besonders die Politik der Befreiung aller Völker des Orients ohne Rücksicht auf ihre Nationalität von der Herrschaft der Tyrannei der Welträuber« seine Regierung zu diesem Freundschaftsvertrag angeregt habe. Daraus ist nichts geworden. Und in Afghanistan fließt wieder Blut.
Am Ende des eindrucksvollen Buchs von Mariam Notten steht: »Als Optimistin bin ich der Meinung, daß jeder Mensch in der Lage ist, die Welt zu verändern, und wenn es...
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