Zwischen Alexanderplatz und Mecklenburg
Joachim Seyppel erinnert sich an die angloamerikanische Kolonie in der DDR
Joachim Seyppel, Dr. phil., ist bekannt durch zahlreiche Romane und Erzählungsbände, darunter »Abendlandfahrt«. »Columbus Bluejeans«, »Ein Yankee in der Mark«, »Die Mauer oder Das Café am Hackeschen Markt«. Lieferbar sind von ihm seine Romane »Die Wohnmaschine«, seine Biografien über Gerhart Hauptmann und Lesser Ury und sein Erinnerungsband »Schlesischer Bahnhof«. Geboren 1919 in Berlin-Steglitz, blickt Joachim Seyppel auf ein bewegtes Leben zurück: Vor seiner Einberufung zur Hitler-Wehrmacht Schauspieler und Landarbeiter; wegen Wehrkraftzersetzung neun Monate in Haft; nach der Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Dozent und Schriftsteller in Westberlin. 1949 übersiedelte er in die USA, wo er bis 1960 deutsche Sprache und Literatur an diversen Universitäten und Colleges lehrte. Danach Rückkehr nach Westberlin und 1973 Übersiedlung in die DDR. 1979 wurde Joachim Seyppel mit acht weiteren Kollegen aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Danach Rückkehr in die BRD. Lebt heute in Hamburg.
Aber am gemütlichsten waren doch die Dinner-Partys? Schwierig, ihre Atmosphäre zu beschwören nach langer Zeit. Eingeladen zu pünktlich neunzehn Uhr in eines der eher großzügig entworfenen Appartements der Karl-Marx-Allee Nr. 116, der vom Stararchitekten Hermann Henselmann im »Zuckerbäckerstil« des Stalinismus hingesetzten Repräsentativwohnungen. Kay öffnete selber die Wohnungstür, begrüßte Tatjana in ihrem unsicheren Deutsch, unsereinen in ihrem durch die Südstaaten gefärbten Amerikanisch. Wie viele werden wir gewesen sein, acht, neun? Die Gäste, Mitglieder der angloamerikanischen Kolonie der DDR oder dieser nahe stehend, ich hatte meinen Uncle Sam-Pass nach rund einem Dutzend Jahren zurückgegeben, der Germanistikkarriere entsagt und war gen Ostberlin übergesiedelt nach den Wanderungen auf Fontanes Spuren, »Ein Yankee in der Mark«. Stefan Heym war da, der Washington im Zeichen von Vietnam etc. Verrat am neuweltlerischen Traum vorgeworfen hatte. Zunächst ließ Kay den unvermeidlichen Manhattan-Cocktail servieren (durch ihre sonst in diesem Realsozialismus unübliche »Haushälterin«), stark und trocken, und Stefan bemerkte, wäre ich nicht mit meinen im amerikanischen Sektor nach dem Krieg geborenen Links-Vorstellungen in den Osten gezogen, hätte ich nie erfahren, wie man hier lebe. Oliver Harrington zeichnete für die Satirezeitschrift »Eulenspiegel« oft die Titelseite, scharf und peinlich genau, nur wünschten wir uns gelegentlich doch eine, unsere eigenen Missstände aufspießende Karikatur. In solchen Situationen half Alan Winnington aus. Und erzählte, allerdings auf Oxford-Englisch oder im Londoner Cockney-Dialekt, seinen Lieblingswitz: »Wieso würde Christus in der DDR nicht gekreuzigt werden? - Es gäbe keine Nägel!« Um die Stimmung nicht völlig ins Burleske umkippen zu lassen, wurde jetzt die Suppe serviert. Hatten wir zuvor, cocktailüblich, herumgestanden, nahmen wir Platz. Kay hatte an alles gedacht, immer abwechselnd eine Dame und ein Herr, wenn möglich unterschiedlicher Nationalität, meine Lebensgefährtin, Tatjana aus Pankow, doch mit bulgarischem Vater (aus der Ex-Militärmission), vielleicht neben John Peet, Reuters-Korrespondent für Berlin. Auf der langen Tafel Kerzen. Mit funkelnden Römern, violett oder hellgrün, stießen wir an, es klang schön, und von der sowieso meist ohne Autostau daliegenden Allee kaum ein Laut. Welchen Wein wir tranken? Auf meiner Wunschliste steht da sächsischer Weißburgunder, trockenes und nach Schiefer schmeckendes Nass von Saale oder Unstrut. Kay kam aus dem US-Staat Virginia, dort war jeder Fünfte ein Neger (in jenen siebziger Jahren noch weit von aller Gleichberechtigung entfernt), und wir speisten Virginia Baked Ham mit Ananas, Sweet Potatoes und Mais aus der Konservenbüchse. Selbstverständlich Ice Cream als Dessert, ein harter Schluck Bourbon Whisky oder Dry Sherry, und der Abend mündete in anregendes, witziges, kritisches, offenes Gespräch. Etwas vom Charme des alten amerikanischen Südens machte sich breit, sehr viel Esprit, sehr viel politischer Zündstoff. Jene Prise Weltoffenheit, die in einem sonst oft muffig-spießigen Lande so herrlich gut tut. Dabei dachte niemand an »Konterrevolution«. Tröstliche Stunden zumal nach Ulbrichts Sturz - anders, als man sich die DDR zumeist vorstellt. Okay, Gone with the Wind. War jemand dabei aus der »verlorenen Generation« der Vereinigten Staaten? Kay Pankey, eine »progressive« Weiße aus dem sonst eher reaktionären Süden, die oft ihre drüben gebliebene Tochter besuchte, war Leiterin des Seven Seas Verlags der DDR für englischsprachige Bücher, mit eigenem Büro, hatte ihren Lebensgefährten, Jazz-Musiker, Neger, durch einen Autounfall bei Potsdam verloren und sich entschlossen, hier zu bleiben. Oliver Harrington, ebenfalls aus den Südstaaten, hatte als Neger die üblichen Demütigungen erfahren müssen, die Redakteurin von »Radio International« kennen gelernt, mit der zusammen er in der »Hauptstadt der DDR« lebte. Von Diskriminierungen, denen er im Ostblock ausgesetzt war, berichtete er ebenso überrascht wie enttäuscht, und hinsichtlich des zu erreichenden kommunistischen Endzustands pflegte er sarkastisch zu bemerken: »Not too fast!« Der real existierende Sozialismus schien ihm zunächst zu genügen. Kurz nach der Wende begegneten wir ihm zufällig im Außenministerium, wo er die Aufenthaltsberechtigung verlängerte. Von Professor Kurt Hager, Kulturallgewaltiger im SED-Politbüro, wusste er zu erzählen, man nenne ihn jetzt in Dissidentenkreisen »Papa Hager«, der über viele seine Hand hielt - skeptisch lauschten wir. Edith Anderson wohnte in der Koppenstraße nahe Ostbahnhof, in einer einfacheren Wohnung, Witwe von Max Schröder, Emigrant, mit dem sie nach dem Krieg in den Sowjetsektor zog, er war der erste Cheflektor für deutsche Literatur des Aufbau Verlags. Starb früh, wurde lange beklagt. Edith, bei ihren Partys, trug einem viele Informationen zu, die sehr halfen. Bei ihr lernte ich Günter de Bruyn kennen, der mich vor Kollegen wie Sakowski warnen wollte, und dessen Sturmlauf gegen meine Aufnahme im Pen. »Who the hell is he!« lästerte sie. Ihr Sohn, Sascha Anderson, arbeitete fleißig für die Stasi, stellte sich nach der Wende heraus. Dean Reed fungierte als perfekter Imitator kalifornischer Auktionäre und ahmte ihren Slang-Schwall nach - in »amerikanischer Versteigerung« wurden alle möglichen Artikel verhökert für Nordvietnam. Er wurde in der DEFA-Eichendorff-Verfilmung der »Taugenichts« - so hübsch sich der Schauspieler machte, ein schlesisches Leben wurde das nicht. Für seinen freiwilligen Übertritt in die DDR aus Überzeugung - er lag so weit links wie etwa Jane und Henry Fonda - büßte er nach der Wende in Hollywood schwer, wo man ihn boykottierte - ein unhappy end, im Suizid. Für meinen Geschmack die überragende Erscheinung der angloamerikanischen Kolonie war Alan Winnington. Zusammen mit Ursula, Ostberliner Agrarexpertin, Kochbuchverfasserin, wohnte er am Strausberger Platz 1, Nobelanschrift. Immerhin, er war in China mit Mao auf dem »Langen Marsch« gewesen. Schrieb für »The Morning Star« in London. Verfasste Kriminalromane (u. a. abgedruckt in der »Berliner Zeitung«). Einmal, nachdem wir in unserer Wohnung Prenzlauer Berg 18 hoch oben die Nacht durchgezecht hatten, versagte der Fahrstuhl seinen Dienst, und Alan mit verstauchtem Fuß, unfähig, Hunderte von Stufen auf der Langen-Marsch-Nottreppe hinabzusteigen, blieb auf der Couch sitzen, wir leerten noch ein paar Gläser, er schlief ein - und als wir ihn zum Frühstück wecken wollten, war er schon weg, nicht ohne noch eine Flasche Bier geleert zu haben. Was ihn mit dem Maoismus hat brechen lassen, stellte er sehr einfach dar: »Die Chinesen bauen alles bloß nach, statt selber was zu erfinden« - der Realsozialismus schien ihm das kleinere Übel. Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters Limited in London war John Peet. Das Telegrafenbureau war das älteste der Welt, 1849 von einem Deutschen in Aachen gegründet, ab 1851 in Nähe der Fleet Street, eine wichtige unvergleichliche Institution. Peet schien mir durchaus ein waschechter Brite: The Kings English, arrogant und doch irgendwie sympathisch in seiner - wohl zuweilen perfiden - Offenheit, schwer zu durchblicken, erinnerte mich an »Lord Haw-Haw«, den englischen Reichsrundfunksprecher der Nazizeit (der wurde, obwohl nicht einmal »British born«, nach dem Krieg in London wegen Hochverrats hingerichtet), und Peet war natürlich alles andere als Sozialist. Jedenfalls hatte er in Berlin einen Top-Informationsjob. Verheiratet mit einer Bulgarin. Einmal zählten wir die männlichen Mitglieder der »Kolonie«, es schien zu reichen für eine Kricket-Mannschaft, mit der wir gegen einen Westberliner Gegner anzutreten gedachten - einst hatte ich für den BSV 92 Kricket gespielt! Peet, a jolly good fellow, stets voll Humor, schwärmte von Ostberliner Bühnen und vor allem einem »Hamlet« im Deutschen Theater. Er schätzte Elizabeth Shaw, Grafikerin aus Irland. Die Aufbau Verlag-Bibliografie zählt über 50 Jahre zahlreiche Titel auf mit Grafik von ihrer Hand, u. a. für ein Brecht-Buch. Iren waren deutschfreundliche Leute, schon der bekannten Englandfeindlichkeit wegen, und Elizabeth rechnete sich de facto zur DDR-Literatur. Im Übrigen sei an gewisse Zusammenhänge erinnert, an die von der Insel aus im 19. Jahrhundert reklamierte Geistesverwandtschaft und Hochachtung vor dem »Volk der Dichter & Denker«. Und an Amerikaner, die »Expatriates«, die Europa wiederentdeckten, an T. S. Eliot, Gertrude Stein, Hemingway, Ezra Pound, Henry James, F. Scott Fitzgerald u. v. a. Natürlich genossen solche Ausländer, zumal mit DDR-Bürgerinnen liierte, bestimmte Privilegien, die bürokratisch genau festgelegt worden waren, in Sachen Ein- und Ausreise, Devisen, Aufenthaltserlaubnis, Reisen, Einkaufsmöglichkeiten usw. Innerhalb des Landes bewegten sie sich im Prinzip wie DDR-Bürger. Einmal kamen die Freunde uns in Drispeth besuchen. Pfingsten, fröhliches Fest, sogar gutes Wetter. In Tatjanas Zimmer unseres alten Bauernhauses zwischen Schwerin und Wismar quartierten sich die Frauen ein, in zwei anderen Zimmern die Männer. Unsereiner zog in den umgebauten Stall. Unser Zweitwohnsitz, die Datsche, gefiel ihnen anscheinend gut. Wenn der Datschist im Stall auf Feldbett nächtigte und mittags die Beine zum Fenster rausstreckte, amüsierte sich Alan: Jetzt wisse er, was ich eigentlich sei, »an eccentric«. Atmosphäre Alt-Europas? Vielleicht, immerhin mussten alle Übernachtenden im Hausbuch eingetragen werden, Vorschrift der Volkspolizei, die zuweilen auf einem Moped misstrauisch die Häuslerei umfuhr. Zum Frühstück braute Alan auf dem Feuerherd der Wohnküche köstlichen Tee, das konnte keiner wie er. Briet Ham & Eggs. Gewiss gab es dazu Porridge. Kein »continental breakfast«, sondern ein wahres Mahl! Zuvor als appetitanregend einen Sherry. Er verriet uns, dass Churchill morgens im Bett stets erst einmal einen Gin eingenommen hatte und dann ans Tagewerk gegangen war. Kay, im Auto, war auf Stöckelschuhen angereist und versuchte auf hohen Absätzen Mecklenburger Sand- oder Schlammwege, dann lief sie barfuß, abends Verbandsstunde gegen die Fußblasen. Sie interessierte sich für den im »Ausbau« lebenden Griechen, Opfer des Weltkrieg II Bürgerkriegs, er übersetzte zwei seiner Lyriker ins Deutsche.Ursula war mehr interessiert an der LPG »Thomas Müntzer«, Neuland unterm Pflug und das an unsre Kate grenzende Naturschutzgebiet. Abends im Hof zwischen Kate, Stall, Schuppen und Wiese unsres knapp 2000 qm großen Grundstücks (erworben für einen Spottpreis) wurde gefeiert. Wir saßen um das offene Holzfeuer und brieten von Dorfjungen geangelten Hecht, Karausche, Dorsch. Nachbarn stellten sich ein, Exbauern aus dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Christa und Gerhard Wolf erschienen aus dem 5 km entfernten Neu Meteln (ihr altes, schön ausgebautes Haus brannte bald ab). Gegen Mitternacht landeten am Ufer des Dambecker Sees Freunde von der anderen Seite in Wendisch Rambow und fielen bei der Rückfahrt aus dem lecken Ruderboot ins Wasser - schwimmend erreichten sie das Trockene. Bauer Pauls aus der Analphabetenfamilie und großer Trinker vor dem Herrn (wer war dies in Drispeth eigentlich nicht?) fiel plötzlich stocksteif vornüber ins Gras, da erst bemerken wir, dass er den aus Berlin mitgebrachten Dreisterne-Cognac aus Frankreich alleine geschafft hatte. Ehe die Mitglieder der anglo-amerikanischen Kolonie heimfuhren zum Alexanderplatz, mochte wohl noch Ex-Schmied Wilken oder der bei ihm hausende Ex-Dentist an einem in der Veranda Lesenden vorbeigewackelt sein mit der Warnung: »Mak dat Bauk tau, Leernen ist för die Dummen!« Und an jeder der beiden Seiten der Freunde, ob in der Hauptstadt oder auf dem Dorfe, dachte sicherlich der eine o...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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