Der Trieb zum Herrschen und der Gehorsam der Sklaven

Zum Todestag von Eduard Lasker vor 120 Jahren

  • Rosemarie Schuder
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Schiffe in Bremerhaven hatten am 25. Januar 1884 Halbmast geflaggt, obwohl der Heimkehrende zeitlebens keine staatlichen Ämter innehatte, auch gehörte er nicht in die fast unerschöpfliche Reihe der Ordensträger. Eduard Lasker. Unterwegs auf einer Vortragsreihe in den USA war der Jurist und Politiker am 5. Januar in New York gestorben. Die Nachricht von seinem Tod hatte ein vielfältiges Echo ausgelöst. In der »Vossischen Zeitung« hieß es: »Schwer lastete auf seiner Seele die Erscheinung jener demagogischen Bewegung, welche alle niederen Triebe und Leidenschaften der Menge zum Rassenhasse und zum Kampfe gegen die Errungenschaften sittlicher Kultur entfachte.« Im Nachruf der Kreuz-Zeitung fand sich für den am 14. Oktober 1829 in Jaroscyn, Bezirk Posen, Geborenen die Bezeichnung »Israelit«. Seinen trauernden Freunden erschien es wie ein Symbol: Das Schiff seiner letzten Reise hieß »Neckar«. War es doch wegen seines Antrags, das Land Baden (wo der Neckar fließt) in den Norddeutschen Bund aufzunehmen, bei der Reichstagsdebatte am 24. Februar 1870 zu einem schweren Zusammenstoß mit dem Kanzler gekommen. Bismarck lehnte das Ansuchen ab und warf Lasker vor, wenn er alles besser wisse, solle er doch Kanzler werden. Der gehorsame Leibjournalist des Kanzlers, Moritz Busch, hielt in seinem Tagebuch den Kanzlerausspruch fest: »Lasker ist Redner mit zersetzendem Wesen, kein Politiker.« Aus Buschs Aufzeichnungen »Graf Bismarck und seine Leute« ist zu erfahren, was im Hauptquartier während des als Jagdgeschehen betrachteten Krieges gegen Frankreich gegessen und getrunken wurde, sogar, wie der »Chef« halbe Puten verspeisen konnte. Eduard Lasker hatte nie zu »seinen Leuten« gehört. Ein Blick auf das Jahr 1848 zeigt die Gegensätze: Der Gutsbesitzer aus Schönhausen suchte nach Wegen, um dem König in Berlin mit Waffengewalt gegen die Aufständischen zu helfen. Der Jurastudent aus Breslau ging nach Wien zu den Revolutionären um Robert Blum. Im Jahr zuvor hatte Bismarck auf einer Landtagssitzung zur Frage der Gleichberechtigung jüdischer »Mitbürger« erklärt, er sei keineswegs ein Antisemit, jedoch er als Christ könne sich nicht vorstellen, vor einem jüdischen Richter einen Eid schwören zu müssen, er gehöre »zu dem grossen Haufen, welcher an den Vorurteilen klebt, die er mit der Muttermilch eingesogen hat«. Noch im Jahr 1851, nach glänzend bestandenem juristischen Examen, durfte Eduard Lasker, da er sich nicht taufen lassen wollte, in Berlin nur als Auskulator, als Zuhörer bei Gerichtssitzungen zugegen sein. Er nahm schließlich den Rat eines Freundes an, sein Glück in England, dem »Mutterland der praktischen Weisheit«, zu suchen. Dort brachten ihn seine Beobachtungen des Parlamentslebens zu der Erkenntnis, das er zurückkehren müsse, um im Land seiner Geburt für Recht und Gerechtigkeit zu wirken. Seine politische Laufbahn begann, als er im März 1865 in den 4. Berliner Wahlkreis für die Fortschrittspartei gewählt wurde. Seitdem warf er sein Wort in die Waagschale der parlamentarischen Debatten. Sein Ansehen beruhte auf drei Säulen: Er war unbestechlich, sachkundig und beherrschte die Redekunst. Im Bestreben um die Einheit Deutschlands gab es mit Bismarck Gemeinsamkeiten. Aber der Kanzler blieb bei seinen Vorbehalten gegen den Mann, der das Parlament stärken wollte und der beharrlich auf der Gleichberechtigung für alle Staatsbürger bestand. Einmal äußerte er, Lasker sei schlimmer als Blum. Nach der berühmten Rede vom 7. Februar 1873 vor dem Preußischen Landtag, als Lasker die Verwicklung hoher Staatsbeamter in betrügerische Gründungen von Eisenbahngesellschaften aufdeckte, wuchs die Abneigung des Kanzlers, und als der Abgeordnete entschieden gegen die Todesstrafe auftrat, zeigte sich die Unvereinbarkeit der Auffassungen. Bei der Erörterung um das Sozialistengesetz geriet Lasker in den Fraktionszwang der Nationalliberalen Partei, zu deren Mitbegründern er gehörte. Er gab seine anfängliche Haltung gegen dieses Gesetz auf. Schließlich aber trat er aus der Fraktion aus und gründete in Opposition zur Regierung mit Gleichgesinnten vom linken Flügel der Partei die Gruppierung der Sezessionisten. Besorgt warnte er vor einer Entwicklung des vereinten Deutschlands zum Polizeistaat. Sein Freund Ludwig Bamberger berichtete über die Reichstagsrede vom Mai 1879: »Als das tägliche Leben des bedürftigen Mannes erschwert werden sollte zu Gunsten bevorzugter Klassen, als er merkte, dass es galt, die Großindustrie und den Großgrundbesitz zu begünstigen unter dem Scheine, dem armen Manne Wohltaten zu erweisen, da fasste er den Gegenstand mit der ganzen Wärme seines Gerechtigkeitssinnes, da hielt er vielleicht die heftigste Rede, die ich je von ihm gehört habe, die Rede über den Petroleumzoll, die Absicht, das Licht des Arbeiters zu besteuern.« Dem Ausspruch »Wir haben jetzt eine aristokratische Politik« hielt der Kanzler entgegen: Lasker betreibt »die Finanzpolitik eines Besitzlosen«. Noch im Frühjahr 1883 vor seiner Abreise nach Amerika hatte Eduard Lasker nach langwierigen Kommissionssitzungen das Gesetz zur Krankenversicherung der Arbeiter auf den Weg gebracht. Als der Sarg vom Schiff an Land getragen war, hielt der Bürgerschaftspräsident Claussen vor den nach Bremen gekommenen Verwandten und Freunden die Trauerrede: Kein Volk könne sich rühmen, in seinen Reihen einen solchen Mann zu wissen, »der treuer in der Erfüllung selbst gewählter schwerer Pflichten, freier von jedem selbstsüchtigen Streben gewesen wäre als Lasker«. Er stellte fest: »Die Arbeit seines Lebens galt der einheitlichen und freiheitlichen Entwicklung Deutschlands.« Als Vertreter seines Wahlkreises erinnerte der Reichstagsabgeordnete Baumbach aus Sonneberg daran, dass Laskers Lauf als Volksvertreter bis zu den Bergen Thüringens führte. Für die Berliner Trauerfeier am 28. Januar in der Synagoge an der Oranienburger Straße hatte es offensichtlich eine Weisung von hoch droben gegeben. Die »Vossische Zeitung« berichtete: »Es war keiner der aktiven Würdenträger zugegen, die das Staatsministerium bilden.« Auch der Rektor der Berliner Universität hatte die Einladungskarte mit der Bemerkung zurückgegeben, er könne keinen Gebrauch davon machen; dem schloss sich der Dekan der philosophischen Fakultät an. Vor den vielen, die in das Gotteshaus gekommen waren, sprach Rabbiner Frankl vom »Meer der Ewigkeit«, das nun den Dahingegangenen aufgenommen habe. Rückblickend auf den Lebensweg fand er zum Wesen Eduard Laskers: »Er zeigte, wie Judentum, Vaterlandsliebe und Menschentum ein würdiger Dreiklang zu vollkommener Harmonie sich einen und verschmelzen.« Draußen hatten sich Tausende versammelt. Es schneite, aber die Menschen warteten, sie wollten den Verstorbenen zum Friedhof an der Schönhauser Allee geleiten. Sie verehrten ihn, den Unbestechlichen. »An der Spitze des Zuges ging der große Handwerkerverein, die alten Fahnen von 1848 mit sich führend.« Vereine verschiedener Wahlkreise folgten, auch mehrere Musikkapellen. Und mitten im Schneegestöber schien einen kleinen Augenblick die Sonne. Auf dem Friedhof fand Rabbiner Maybaum bewegende Gedenkworte: In seinem Streben nach Gerechtigkeit erinnere Lasker »an die altisraelitischen Propheten, die ihren Blick allzeit auf die Gesamtheit der Menschen richteten, die die ergreifende Gestalt jenes Gottesknechtes schufen, der freudig ergeben alles Leid und alle Mühsal des Lebens erträgt.« Am Abend hielt Ludwig Bamberger im überfüllten Saal der Berliner Singakademie die Trauerrede. Aus eigenem Erleben wusste er um den Einfluss seines Freundes auf Gesetzesvorlagen. Bei einer Reichstagssitzung wurde er Zeuge, wie ein Minister seinem Sekretär sagte: »Lasker hat sich zustimmend geäußert, nun bin ich dicke durch.« Dann hörte er, wie »ein hoher Staatsbeamter, der die Unabhängigkeit seiner Gesinnung heute dadurch zeigte, dass er bei der Trauerfeier ebenfalls fehlte, bei seiner Beförderung in sein jetziges hohes Amt zu Lasker sagte: Ich hoffe, dass Sie mir in meinem neuen Amt dieselbe Förderung leihen, wie in meinem früheren; sie begaben sich zu ihm, die drei Treppen hinauf (in seine bescheidene Wohnung in der Köthenerstraße 3), er begab sich nie zu einem von ihnen, weil er nichts von ihnen verlangte.« Die Abneigung des Kanzler wurde überdeutlich, als er am 9. Februar 1884 dem Gesandten der USA, Mr. Sargent, das Beileidsschreiben des Repräsentantenhauses zurückgab. Der Fürst fühlte sich durch den Satz beleidigt, dass Laskers »feste und standhafte Vertretung von und seine Hingebung an freisinnige und liberale Ideen wesentlich die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Volkes gefördert hat«. Im Tagebuch der engen Vertrauten Bismarcks, Baronin Hildegard von Spitzemberg, steht die Notiz vom 15. Februar 1884, dass sie bei ihrem Besuch in Friedrichsruh Bismarck gut gelaunt erlebte: »Dann erzählte er mit sichtlichem Behagen, wie er die Adresse des amerikanischen Kongresses wegen Laskers Tod, die er dem Reichstag übermitteln sollte, zurückgeschickt, da er nach seiner dreißigjährigen Erfahrung Lasker nicht für einen so großen Mann und Wohltäter des deutschen Volkes halten könne.« Am 13. März 1884 gab es dazu im Reichstag ein Nachspiel. Der Kanzler sah sich genötigt, sein Verhalten vor den Abgeordneten zu erläutern. Er sei wohl einer der treuesten Freunde der Vereinigten Staaten, jedoch lasse er sich nicht »vor den Triumphwagen Laskers« spannen. Die Entgegnung des Abgeordneten Dr. Hänel, der Kanzler habe ein inhumanes Totengericht gehalten, wies er heiter zurück, es sei nicht recht, ihn vor »versammelter Kriegsmannschaft« zu tadeln. Zwei Tage später notierte Baronin Spitzemberg einen Ausspruch über den Reichstag, »den sie jetzt "Gasthof zum toten Juden" nennen«. Als Eduard Lasker im Jahr 1874 seine Gedanken über »Anlagen und Erziehung« in der »Deutschen Rundschau« veröffentlichte, stand er auf der Höhe seines Ruhmes. Er schrieb auf, wie mit dem ersten Atemzug der Bildungsgang beginnt und fragte, wohin der »Wissenstrieb« Heranwachsender in »kluftartig getrennten Gruppen der Schulerziehung« gelenkt wird. Er untersuchte, wie durch den »Trieb zum Herrschen« auch der »Abstand zwischen der unbeschränkten Herrschaft des Fürsten und dem willenlosen Gehorsam der Sklaven« entsteht. Der Bezug zur Gegenwart konnte nicht verborgen bleiben. Die Sorge, dass Kinder der Erziehung zur Willenlosigkeit ausgeliefert werden, beunruhigte ihn. Er suchte den Weg, »wie wir das gesamte Leben einzurichten haben, damit ein jeder befähigt werde, seine Anlagen auf das Nützlichste zu entfalten; damit ein jeder aus der bereits errungenen Kultur seine Nahrung ziehe.«

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