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Mein Vater Hans Fallada
Als der Sohn Uli 1940 von der Dorfschule in Carwitz auf das Gymnasium nach Templin in der Uckermark wechselt und im Internat leben muss, verspricht ihm der Vater, jeden Sonntag einen Brief zu schreiben. Bedingung ist, dass auch Uli jede Woche schreibt. Falladas Briefe an den Sohn sind liebevoll, lustig und kameradschaftlich, wenn es sein muss, auch ermahnend. Er lässt ihn teilhaben am Leben in Carwitz, erzählt von den Geschwistern, seiner Arbeit auf dem Hof und mit den Tieren, von seinen Sorgen, den Kriegsalltag zu bewältigen. Uli berichtet von der Schule, von Freunden, von Luftalarm und schlechtem Essen. Ein starkes, inniges Verhältnis bindet beide, das durch die Scheidung der Eltern zunächst kaum beeinträchtigt wird. Es brach erst, als der Sohn in den beiden letzten Lebensjahren des Vaters Zeuge der Morphiumsucht und des Verfalls wurde. Uli Ditzen hat aus der umfangreichen Korrespondenz der Zeit von 1940 bis 1946 eine berührende Auswahl getroffen, die unter dem Titel »Hans Fallada/ Uli Ditzen: Mein Vater und sein Sohn« Ende Januar im Aufbau-Verlag erscheint.
Mein Vater ist jetzt über fünfzig Jahre tot. Die Erinnerung ist längst verschwommen. Manche Gesten meine ich mir noch vorstellen zu können. Und Fotografien, die er in großer Zahl hinterlassen hat, halten seine äußere Erscheinung im Bewusstsein. Doch seine Körpergröße habe ich nicht mehr in Erinnerung, vor allem die Stimme meines Vaters kenne ich nicht mehr, sie ist verklungen - wie so vieles vergangen ist von dem, was er neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit noch tat und war.Als dann auch meine Mutter gestorben war, mehr als vierzig Jahre später, kamen ihre persönlichen und persönlichsten Dinge in den Besitz der beiden Söhne. Lange sahen wir davon ab, den Schriftverkehr zu sichten. Schließlich ließ die Pietät nach, das Interesse nahm zu. Neben manchem, was noch heute verschlossen ist, fand sich ein alter Leitz-Ordner ..., handbeschriftet: »Kinder«. Ein alter, abgegriffener Ordner.
Meine Mutter - die Mummi, wie sie von Ehemann, Kindern, Freunden und vielen ihr sonst Nahestehenden genannt wurde - die Mummi also muss ihn oft in der Hand gehabt haben. Nach meiner Vorstellung auf der Suche nach der früh gestorbenen Tochter Mücke, die ihr immer das liebste Kind war, aber wohl auch nach den beiden Söhnen, die ihr, wie üblich, eines Tages aus Haus, Fürsorge und Leben entwachsen waren.
Jetzt also liegt dieser Ordner vor mir. Sein Inhalt: 461 Blatt Korrespondenz aus dem Zeitraum 1940 bis 1946. Korrespondenz hauptsächlich zwischen dem Vater, manchmal auch der Mutter, mit dem Sohn Uli, der anfangs zehn Jahre alt war und zum Ende sechzehn, dazu auch Korrespondenz, in geringerem Umfang, mit Mücke (damals neun und zehn Jahre alt). Meistens Briefe im Vollformat DIN A4, gegen Kriegsende im Zeichen des Papiermangels häufiger im Halbformat, gelegentlich auch nur Postkarten. ... Der Vater schrieb jahrelang auf seiner Reiseschreibmaschine Remington mit der kleinen Type Pica und engzeilig, erst in der Endphase öfter mit der Hand; die Kinder gaben ihre Berichte handschriftlich, meist mit Tinte. Lange Texte, einiges an Leerformeln, ganz überwiegend aber Substanz. Für mich tat sich, als ich die alten Briefe las, eine verlorene, eine neue Welt auf ...
Nach dem Erfolg des »Kleinen Mannes« im Jahre 1932, der ihm zugestandenermaßen in Bezug auf seine Lebensführung und Sparsamkeit eher wenig gut bekam, hatte sich mein Vater aus der Großstadt geflüchtet, weg von Berlin aufs Land. Carwitz bei Feldberg in Mecklenburg war weit weg genug. Ein Ort mit damals nicht einmal 300 Einwohnern. Heute wird manchmal von einem Fischerdorf gesprochen, doch das trifft es nicht - der eine Fischer namens Haase, den es gab, bestimmte nicht den Charakter von Carwitz. Eher die Bauern, die sich mit wenig genug Hektar von armem Endmoränen-(Sand-)Acker mühsam ernähren mussten, und die Waldarbeiter. Und dort, praktisch am Ende der Welt, lag, noch hinter dem Dorf, die Büdnerei Nummer 17. Sie wurde für Familie Ditzen zur Heimat, für die Kinder zum Paradies - mit einem Vater, der nach seiner nächtlich-morgendlichen Schreiberei für sie Zeit hatte, sie auf den Acker, in den Stall mitnahm, mit ihnen im Kahn zum Schwimmen fuhr und mit dem Sohn dann auch über Krieg und Politik sprach, über das, was im Staatsrundfunk und im »Völkischen Beobachter« verkündet wurde, ebenso wie über das, was die Feindsender sagten ... Dieser Vater war schon ein Traumvater!
Das Dorf hatte eine Schule, mit einem einzigen ofenbeheizten Klassenraum, in dem alle acht Altersklassen unterrichtet wurden. Von dem einzigen Lehrer des Ortes, dem Herrn Schwoch, der später auch Ortsgruppenleiter der Partei und Bürgermeister wurde. Für die ersten drei Schuljahre sahen meine Eltern diese Schule als ausreichend an. Gerade auch, weil Mücke und mir beim Schulbesuch im Dorf die unbeschwerte Kindheit erhalten blieb ... Doch ausreichende Vorbereitung für das Gymnasium, auf das wir mit zehn Jahren sollten, konnte Herr Schwoch nicht bieten. Deswegen hieß es schließlich: Ab in die Verbannung! Zuerst kam ich auf ein Jahr zu guten Freunden des Vaters nach Berlin, damit ich dort einmal richtigen Schulbetrieb mit seinen Anforderungen kennen lernen konnte, dann 1940 nach Templin in der Uckermark, ins Joachimsthalsche Gymnasium und dessen Internat. Der Schwester Mücke ging es zwei Jahre später ebenso, sie fand in einem Internat bei Potsdam Aufnahme.
Mein Vater - der Papa (mit Ton auf der ersten Silbe) - hatte uns eingeschärft, jede Woche einmal zu schreiben. Genauso, wie er uns jede Woche schreiben würde. Ausgenommen natürlich Ferien und Wochenendbesuche ...
Mit diesem Briefwechsel hat mein Vater sich mir wiedergegeben, über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod.
Zum Verlust des ursprünglich so geliebten Vaters war es in seinen letzten beiden Lebensjahren gekommen, mit seinem Tode. Der war einsam, arm und würdelos. Niemand, von dem ich wüsste, hat seine letzten Stunden begleitet. Auch mich, den damals Sechzehnjährigen, drängte es nicht mehr täglich an sein Krankenlager. Er lag im Pankower Hilfskrankenhaus Berneburger Straße. Es war die kümmerlichste Station auf den vielfachen Morphium-Entziehungskuren, denen er sich immer wieder ebenso freiwillig wie schließlich ergebnislos unterzog. Ich verstand nicht, warum das sein musste.
Im zerstörten Nachkriegs-Berlin hatte er es mit seiner Familie an sich nicht schlecht getroffen. Obdach in einem vom Luftkrieg unberührten Einzelhaus in Pankow am Eisenmenger Weg; ein Keller voller Braunkohle im bitterkalten Winter 1946/47; genug zu essen mit der Schwerarbeiter-Lebensmittelkarte der »Kulturschaffenden« und mit zusätzlichen Pajoks der sowjetischen Militärverwaltung; und an seiner Seite seine fünfundzwanzigjährige zweite Ehefrau Ulla, die mit enormer Tatkraft und Freude am Organisieren manches möglich machte, was für den Normalbürger unerreichbar war. Um aber auch als letztes das für ihn immer wichtigste zu erwähnen: die Arbeitsmöglichkeit. Was er jetzt schrieb, wurde ihm gewissermaßen aus den Händen gerissen, für Honorare, die sich selbst in Reichsmark sehen lassen konnten.
Das alles, aber auch die Sucht nach Morphium, die sein Leben und das seiner Frau gleichwohl zerstörte, konnte ich hautnah verfolgen. Nach Trennung und Scheidung meiner Eltern im Jahre 1944 war ich bis Kriegsende im Internat geblieben, nach dem Zusammenbruch in Mecklenburg. Dort gelang es 1945/46 zunächst nicht, die weiterführenden Schulen wieder zu öffnen; so nahm mein Vater zunächst mich und dann die Mücke im Eisenmenger Weg auf, so konnten wir in Pankow zur Schule gehen. Als ich frohgemut im zerstörten und doch hochinteressanten Berlin ankam, ahnte ich nicht, dass ich bald über Monate hinweg zum De-facto-Haushaltsvorstand werden würde.
Das familiäre Chaos, in das ich kam, traf mich unvorbereitet. Von den Gründen der Trennung und von der Scheidung hatte ich kaum etwas gehört, und was, in verharmlosenden Worten. Von der Suchtgefährdung meines Vaters bis zur Zeit der Gründung unserer Familie wusste ich gar nichts ... Nun aber, 1946, entdeckte ich plötzlich, dass die Jagd nach Morphium Hauptziel der »Eltern« war. Aufgabenteilig: Für die Finanzierung war der Vater zuständig, für die Beschaffung Ulla. Mit Charme wie mit Schönheit beliehen (wenn auch nur bis zum jeweils nächsten Zusammenbruch mit nachfolgendem Klinik-Aufenthalt), war Ulla bei der Erfüllung ihrer Aufgabe verblüffend erfolgreich. Dabei war das Problem offensichtlich nicht der Ankauf des Stoffes - Morphium, meist in 100-ccm-Flaschen, war aus Beständen der zusammengebrochenen Wehrmacht am Schwarzen Markt massenhaft vorhanden - Ullas eigentliches Problem war die Beschaffung auf Pump. Denn der Bedarf an Stoff eilte dem Zufluss der Mittel immer spürbar voraus; seltsame Gestalten erschienen manches Mal am Eisenmenger Weg, feierten mit den Falladas. Die Hilflosigkeit des Süchtigen, der Stunde für Stunde auf die nächste Lieferung wartet, ist jämmerlich. Die Haltlosigkeit des Süchtigen, der den soeben angelieferten Schuss feiert, kaum minder.
Von Familienleben, wie ich es aus Carwitz gewöhnt war, konnte keine Rede sein. Keine gemeinsamen Mahlzeiten zu festen Stunden mehr, kaum Kontakte innerhalb der Familie. Ulla war fast immerzu unterwegs; kam sie nach Hause, wollte sie gelobt werden für den Erfolg des jeweils letzten Organisationszuges, war es nun die Beschaffung eines ganzen frischen Brotes oder die Aufhebung der Stromabschaltung, nachdem das amtliche Verbrauchskontingent mit abenteuerlich vielen Kilowattstunden überschritten war.
Und wie habe ich den Vater in Erinnerung? Aus dieser Zeit kaum. Konnte er arbeiten, so war er im Arbeitszimmer und arbeitete wie besessen. Konnte er es nicht, so war er meist im Schlafzimmer, verfallen und hungrig nach der nächsten Spritze, oder glücklich von der letzten. So kam mir die Achtung vor meinem Vater abhanden.
Noch in den fünfziger Jahren, das berichtete kürzlich eine Freundin jener Zeit, habe ich von meinem Vater nur als von »diesem Mann« gesprochen.
Der Wandel der Einstellung dauerte Jahrzehnte. Als Erstes stellte ich fest, nicht ohne Verwunderung, dass das Werk Falladas nicht vom Markt verschwand. In den ersten Jahren nach seinem Tode war für mich fast selbstverständlich, dass die Bücher eines Versagers keinen Erfolg mehr haben konnten. Jedenfalls nicht auf Dauer. Doch die Rowohlt-Taschenbücher mit vielen Fallada-Titeln kamen und blieben, der »Kleine Mann« wurde zur Nummer 1 der flexiblen Serie, die nach der Währungsreform die großformatigen Rotationsdrucke ablöste. Parallel dazu pflegte der Aufbau-Verlag das Werk ... Die gebundene Ausgabe, die von den 60er bis in die 80er Jahre erschien, war der verlegerische Höhepunkt. Den Nachworten des Herausgebers Günter Caspar entnahm ich Informationen und Wertungen, die mir in meiner jugendlichen Ignoranz fremd und unbekannt gewesen waren ...
Heute bin ich rund zwanzig Jahre älter als mein Vater geworden ist. Aus meiner Sicht eines Siebzigers stand er, als er mit 53 starb, noch in den besten Jahren. Wenn es, abgesehen von den zwölf guten Carwitzer Jahren, dennoch kein ordentliches, gutes Leben geworden ist, so lag es gewiss nicht an mangelndem Streben.
Mein Vater hatte ein besonderes Gespür für Menschen, für Situationen, einen feinfühligen Nerv, der ihm erlaubte, die Welt um sich herum zu erfassen - das erweist sein Werk. Nur war dieser Nerv nicht bloß rezeptiv, sondern auch reaktiv: Die Welt seiner Tage griff zu auf ihn, ließ ihn mitten darin stehen, nicht darüber. Stärke war sein Haupt-Charakterzug wohl nicht.
Aber manches Mal bedenke ich, wie ich selbst wohl, ... die Zeit um 1945 mit ihrem Zusammenbruch aller bisherigen Lebensverhältnisse überstanden hätte, wie ich wohl mit dem Charme und der Verführung einer halb so alten Frau umgegangen wäre, die für ihren Partner durch dick und dünn ging, mochte das gemeinsame Ziel auch nur die leichte Flucht in den Rausch sein. Für mich selbst, denke ich dann, wollte ich keine Gewähr des guten Ausganges übernehmen.
So hat der Sohn schließlich sein Verständnis der Dinge und seinen Frieden gefunden mit dem Vater. Und den Gehalt einer Kindheit, die über lange Ja...
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