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  • Brandenburg
  • ND-Gespräch mit dem Gerichtspsychologen Prof. Dr. REINER WERNER

Was verbirgt sich hinter der Mordserie in Berlin?

  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Mordserie überzog Berlin im Januar und Februar. Was hat es mit der ungewöhnlichen Häufung der Fälle auf sich, was mit der offenkundigen Brutalität? ND befragte einen Experten: Prof. Dr. REINER WERNER, Chef des Institutes für Sozialtherapie und Forensische Psychologie der Humboldt-Universität. Zehn Morde in elf Tagen und inzwischen 22 in diesem Jahr. Können Sie sich einen Reim darauf machen?

Es dürfte sich um ganz unterschiedliche Motive handeln - Rachsucht, Verdeckungsstraftaten, sexuelle Gründe, aber auch die Lust am Mord. Wenn solche Straftaten sich jetzt in einer derartigen Abfolge häufen, dann hat das etwas mit dem Gesetz der Serie zu tun. Eine gewisse Nachahmung ist ja immer da. Denken Sie an das Beispiel des abgeschnittenen Penis. Jahrzehntelang sind solche Fälle eine Seltenheit, jetzt hören wir von mehreren hintereinander.

Was aber auffällt, ist die besondere Brutalität - man schlug auf die Opfer nach der Tat noch drein, zweimal wurden Köpfe abgeschnitten, auch Körper zerstückelt.

Es handelt sich hier um ein sadistoides Element, das sich gegenwärtig voll entfaltet. Die Hemmungen sind weggefallen. Wenn das Opfer nach dem Tode noch mit 30 oder 40 Messerstichen traktiert, mit der Leiche noch Schindluder getrieben wird, liegt das Motiv in der Aggressionslust selbst, einem Teil Narzismus, sich also selbst darzustellen mit seinen germanischen Kräften und Tugenden, die eigentlich gar keine sind.

Gibt es noch weitere Erklärungen?

Wenn der prügelnde Vater gehaßt wurde, weil der sein Kind geschlagen hat, kann sich ein Aggressionspotential anreichern und bei einer Person, die dem Vater nicht einmal ähnlich ist - nur der Täter muß dies so sehen -, sich dann entladen. Die Tat macht sich

fest an einem Objekt, das Ersatz für ihn ist. Und so kommen diese schrecklichen Sachen zustande.

Aber es werden auch Leute regelrecht hingerichtet, um deren Seele zu befreien, wie einer der Täter angab?

Sie meinen die Ritualmorde, wie es sie auch eine Weile bei den Gruftis gab. Heute hat solches eindeutig mit dem Gedankengut von Sekten zu tun. Bei ihnen ist Mord gar kein Mord, sondern die Befreiung des Menschen von niederen Trieben. Aber das hat man in der Sexikologie früherer Zeiten auch schon gekannt. Es war immer eine Orgie, die da ablief, der diese perfide Mordlust innewohnte.

Beides dürfte schwierig miteinander zu vergleichen sein.

Richtig. Wir können Dinge, die tief im Sexulogischen, in der Genetik oder dem Vitalen wurzeln, nicht heute deshalb politisch erklären, nur weil sie sich in die allgemeine Enthemmung einordnen.

Verbirgt sich nicht dennoch mehr dahinter?

Die Morde sind nur die Spitze des Eisberges Kriminalität. Darunter steckt der Aggressionspegel, der unsere Gesellschaft so enorm erfaßt hat, auch, weil es an Arbeit und Zukunftsperspektive fehlt. Und das ist keineswegs vorbei, im Gegenteil. Deswegen scheint es höchste Zeit, etwas zu tun. Nach der Formel Frustration schafft Aggression, frustrierte Aggression schafft Gehemmtheit, müssen wir jetzt versuchen, die Gehemmtheit zurückzuführen, und zwar darauf, sich körperlich auszuleben. Und das wieder-

um zurückbegleiten zur Normalität. Die Zahl der Scheidungen steigt an wie nie, auch die der Suizide, es werden weniger Kinder geboren, ein Viertel der jungen Leute in der Stadt haben bereits Erfahrung mit Rauschgift... Ist dieses lediglich eine variierte Form der von Ihnen beschriebenen Aggressionen - auf einem ganz anderen Gebiet?

Daß es weniger Kinder gibt, nenne ich einfach sozialen Zerfall. Oder nehmen Sie die Single. Die bleiben doch allein, weil sie wissen, wenn man heiratet, kommt man bei neuerlicher Scheidung in soziale oder ökonomische Zwänge. Dieses Perspektivdenken erdrückt schon die naive Liebe. Das Risikodenken hat sich bis in die sozialen Gliederungen verzweigt.

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