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Stalins Widersacher
Leo Trotzki - eine politische Biografie
Zunächst ein Geständnis: Begeistert von Isaac Deutschers Trotzki-Trilogie von 1962/63 hegte ich jahrelang das Vorurteil, ein ähnlich brillantes Porträt von Lenins einstigem Mitstreiter und dem von Stalin zum Erzfeind Auserkorenen sei unmöglich. Dies nun muss ich nach der Lektüre der zweibändigen Biografie von Pierre Broué, Herausgeber der französischen Ausgabe von Trotzkis Werken, revidieren. Seine 1988 in Paris erschienene Publikation liegt nun auch in trefflicher deutscher Übersetzung vor. Spannend und informativ werden Leben und Werk des russischen Sozialdemokraten und schließlichen Bolschewiken, sein Aufstieg zum Vorsitzenden der Petersburger Sowjets 1905 und 1917, wichtigsten Führer der Oktoberrevolution neben Lenin, Schöpfer der Roten Armee und Feldherrn des Bürgerkrieges dargestellt, ebenso sein Wirken nach der Entmachtung und Ausweisung aus der UdSSR, seine Auseinandersetzungen mit Hitlers Nationalsozialismus und Stalins revolutionsfeindlicher Bürokratie, der Kampf um die III. und IV. Internationale und die erbarmungslose Hetzjagd auf ihn und seine Anhänger, Freunde und Familienangehörige bis hin zum von Stalin befohlenen Meuchelmord im August 1940 im mexikanischen Exil. Die Lebensbeschreibung ist eng verwoben mit exakter Schilderung der historischen Entwicklung, der Vorstellung von Zeitgenossen, Kampfgefährten, Gegnern.
Broué hat den bereits von Isaac Deutscher (den er übrigens mehrfach, teilweise zu Unrecht kritisiert) herangezogenen Quellen weitere hinzugefügt. Ab Januar 1980 hat der Franzose als erster Forscher ohne Sondererlaubnis im bis dahin geschlossenen Teil des Trotzki-Archivs in der Houghton Library von Harvard studieren können. Gemeinsam mit Trotzkis ehemaligem Sekretär Jan van Heijenoort (dem die beiden Bände gewidmet sind) hat er am Hoover-Institut in Stanford verloren geglaubte Papiere Leo Sedows entdeckt. Auch konnte er für seine Biografie (wenn auch in geringerem Maße) Akten aus vordem geheimen Sowjetarchiven nutzen.
Besonders interessant ist der zweite Band, der mehr noch als der erste unbekannte bzw. wenig bekannte Tatsachen offeriert. Auch mit Blick auf Alternativen für die Zukunft lesen sich die hier wiedergegebenen Informationen Gewinn bringend, so die zur Entstehung, Geschichte und Zerschlagung der kommunistischen Opposition und zum Charakter der Stalinschen Diktatur. Broué setzt sich mit der vom liberalen US-Philosophen John Dewey, Leiter der multinationalen Untersuchungskommission von 1937 über die Moskauer Terrorprozesse (deren Ergebnisse leider bis dato noch nicht in Deutsch erschienen sind), aufgeworfenen und nach wie vor heftig diskutierten Frage auseinander, ob der Stalinismus die natürliche Weiterentwicklung des Bolschewismus sei. Das in der Biografie gebotene Material ist eine Fundgrube für Antworten darauf. Detailliert werden die verschiedenen linken und »rechten« Gruppen der russischen und internationalen Opposition zu Stalin vorgestellt, deren Wertvorstellungen und Ziele dargelegt. Den Stalinismus definiert der Autor - Trotzki folgend - als Herrschaft einer neuen bürokratischen Kaste. Die unterschiedlichsten Repressionsmethoden, von Lüge und Hetze bis hin zum skrupellosen Mord, werden analysiert, ebenso die sie begünstigenden Momente wie etwa allgemeine Revolutionsmüdigkeit in der Bevölkerung. Dass Bourgeois und rechte Sozialdemokraten den »Trotzkismus« genauso innig hassten, wie Stalin es tat, geht u.a. aus zeitgenössischen Presseäußerungen hervor. So feierte Englands »Morning Post« den Erfolg des Dreigestirns aus Stalin, Sinowjew und Kamenjew 1925 über die Linke Opposition mit den Worten: »Denkt man im höchsten Interesse der Kultur, ist es zweifellos eine Genugtuung zu erfahren, dass das Triumvirat den Sieg davonträgt.« Die »Hamburger Nachrichten« wiederum ärgerten sich 1929 darüber, dass der große Unruhestifter Trotzki nur ausgewiesen worden sei. Es sei ein peinlicher Fehler Stalins gewesen, »Trotzki und seine Clique nicht ins Jenseits« befördert zu haben. Die Abneigung westlicher Kreise gegenüber dem Verstoßenen zeigt sich auch darin, dass nur wenige Länder bereit waren, den exkommunizierten Bolschewiken aufzunehmen. Unter Moskauer Druck legten die französische Volksfront-Regierung und das norwegische sozialistische Kabinett Trotzki im Kampf gegen den Terror in seiner Heimat schwere Hindernisse in den Weg. Und die US-amerikanische Presse überzog die Ergebnisse von Deweys Kommission zunächst mit Spott.
Die von Dewey 1937 erhobene Frage nach der Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit des Umschlags einer proletarischen Diktatur in eine »Diktatur des Sekretariats« hat Trotzki so beantwortet: Dass es zur Diktatur des Generalsekretärs und seiner engsten Mitarbeiter kommen konnte, sei auf die Rückständigkeit und Isolierung Russlands zurückzuführen. Die »zivilisierten und nicht isolierten Länder« würden »eine gesündere und demokratischere Diktatur haben«, die zudem »eine kürzere Periode« dauern würde.
Gegen Ende seiner verdienstvollen Biografie zitiert Broué den Entdecker des Marxismus für Mexiko, Francisco Zamora, der nach Trotzkis Tod über das Verhältnis zu Revolutionären wie diesen und Gefolgsleuten von Tyrannen wie Stalin feststellte: Es wird »in allen Epochen und jeder Gesellschaft... ehrenwerter sein, auf Seiten der feige ermordeten Opfer zu stehen, als seinem allmächtigen Henker als Lakai und Apologet zu dienen«.
Ohne die Bedeutung des Werkes schmälern zu wollen, scheinen mir einige kritische Hinweise zwecks Korrektur in einer eventuellen Neuauflage nötig: Rudolf Heß (Stellvertreter des »Führers«) wird beispielsweise zum »Sekretär und Leibwächter Hitlers« herabgestuft, der KI- und japanische KP-Führer Sen Katayama zum »Funktionär der Internationalen Roten Hilfe«, Clara Zetkin wird als »Halboppositionelle von rechts, dann eine Bürgscha...
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