Der Machiavelli Sowjetrusslands?

Vor 80. Jahren starb Wladimir I. Lenin

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 6 Min.
Der russische Revolutionär und Staatsmann Wladimir Iljitsch Uljanow-Lenin (1870-1924) ist eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Geschichte. Auch achtzig Jahre nach seinem Tod scheiden sich an ihm die Geister. Verwunderlich ist das nicht, denn er gehörte zu den maßgeblichen Führern jener Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Welt in Angriff nahm und über sieben Jahrzehnte gesellschaftliche Realität prägte. Weder der nachwirkende Mythos noch dämonisierende Bilder, wie sie etwa der Ex-Sowjet-General Dimitri Wolkogonow fabrizierte, werden dem ersten Bolschewiken gerecht. Der einstige Leiter des Instituts für Militärgeschichte im Verteidigungsministerium der UdSSR und Jelzin-Intimus hatte in seiner 1994 erschienenen Biografie behauptet: »Lenin war zu hundert Prozent geistiger Vater Stalins. Die allergrößten Wunden auf dem Antlitz unserer Heimat hat sein Name hinterlassen. Alle Wurzeln des Übels Russlands kommen von Lenin und dem Leninismus. Ich würde ihn als den größten Sünder bezeichnen. Lenin hat niemals Russland geliebt.« Ein weitaus seriöserer und kompetenter Wissenschaftler, der deutsche Historiker Manfred Hildermeier, besteht auf einer anderen Sicht: »Vieles spricht dafür, in Lenin die bedeutendste Persönlichkeit der sozialistischen Bewegung nach ihren geistigen Gründern zu sehen. Lenins Leistung bestand in der Anpassung des westeuropäischen Marxismus an die sozioökonomischen und politischen Eigenarten Russlands.« Nach der Öffnung der bisher unzugänglichen Leninfonds konnte der britische Forscher Robert Service eine Lebensbeschreibung vorlegen, die Lenin als Mensch und Politiker im Kontext seiner Zeit und seiner Wirkung auf den Gang der Geschichte erklärt. Zwar meint auch er, dass Lenin »nicht ganz der originäre Weltenschöpfer des 20. Jahrhunderts« war, wie ihn Freund und Feind bisher sahen. Denn er habe vor allem in der »russischen Tradition« gewirkt. Aber als Ideologe, Philosoph, Theoretiker und Politiker habe er eben wie kein anderer die russische Geschichte beeinflusst und umgewälzt, dadurch freilich letztlich auch internationale Veränderungen initiiert: mit der Bildung einer straff organisierten politischen »Partei neuen Typs«, der politischen Machtergreifung im Herbst 1917, der Durchsetzung des bolschewistischen Sowjetsystems anstelle einer bürgerlich-parlamentarischen Ordnung, dem Ausscheiden aus dem ersten imperialistischen Weltkrieg, der Sammlung der radikal-sozialistischen Kräfte in einer kommunistischen Internationale, der Bildung der Union der Sowjetrepubliken, der Kehrtwende zu einer Neuen Ökonomischen Politik und einer Außenpolitik der zeitweiligen »Koexistenz« mit der Welt des Kapitals. Lenin hatte prophezeit, »dass das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird«. Bereits 1920 jedoch musste er das Dilemma erkennen, eine radikale sozialistische Revolution in einem vielgestaltigen und insgesamt unterentwickelten eurasischen Riesenreich zu wagen. Deshalb seine Hoffnung auf die Revolution in einem der fortgeschrittenen Länder, die sich indes nicht erfüllte. Vater Ilja Uljanow entstammte einer Astrachaner Kaufmannsfamilie und war 1874 als Direktor der Volksschulen des Gouvernements Simbirsk in den erblichen Adelsstand erhoben worden. Mutter Anna Blank aus Petersburg entstammte einer begüterten, gebildeten Familie deutsch-schwedischer und jüdischer Herkunft, die seit 1848 einen Gutsbesitz mit 40 Leibeigenen (bis 1861) in Kokuschkino besaß. Wie seine Geschwister erhielt auch Wolodja eine hervorragende häusliche Erziehung und Privatunterricht. Im Sommer 1887 schloss er das humanistische Gymnasium als Bester seines Jahrgangs mit einer Goldmedaille ab. Einschneidend für die Familie und Lenin persönlich waren der Tod des Vaters 1886 und die Hinrichtung des ältesten Bruders Alexander im Mai 1887. Die zaristische Geheimpolizei hatte ein von »Sascha« - diplomierter und promovierter Biologe und Chemiker - mit vier Gleichgesinnten vorbereitetes Bombenattentat auf Zar Alexander III. aufgedeckt, worauf alle fünf Jugendlichen zum Tode durch Erhängen verurteilt wurden. Wladimir Uljanow erhielt die Zulassung zum Jurastudium in Kasan nur durch die Zusicherung von Gymnasialdirektor Kerenski (Vater des späteren Ministerpräsidenten und politischen Rivalen Lenins), dass die Mutter »ihren Sohn für die Dauer seines Universitätsstudiums nicht aus ihrer Aufsicht zu entlassen« gedenke. Doch schon im Dezember 1887 geriet auch Wladimir in den Strudel der russlandweiten Studentenunruhen, wurde er relegiert und auf das mütterliche Gut in Kokuschkino »verbannt«. Denken und Handeln des rebellischen Dissidenten konzentrieren sich seitdem auf die Frage, wie das Zarenregime gestürzt und durch die »Diktatur des Proletariats« eine bessere Gesellschaft geschaffen werden könne. Er suchte Antworten bei Tschernyschewski, bei Marx und Engels, in illegalen Zirkeln. Nebenbei legte er extern 1891 an der Universität in St. Petersburg das Diplom des ersten Grades ab. Als praktizierender Rechtsanwalt übernahm er aber kaum mehr als 20 Klienten. Da er seinen Lebensunterhalt vom Erbteil bestreiten konnte, vermochte er sich ganz der revolutionären Arbeit zu widmen, kontaktierte 1895 Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue in Paris, Wilhelm Liebknecht in Berlin und in Genf den führenden russischen Sozialdemokraten Georgij Plechanow. Während seiner vierjährigen Haft und Verbannung bis Anfang 1900 sowie in der nachfolgenden Emigration bis 1917 ist all sein Tun darauf gerichtet, eine straff organisierte, ideologisch einheitlich ausgerichtete sozialistische Partei aufzubauen, um Russland durch eine sozialistische Revolution umzukrempeln. In der unerwartet ausgebrochenen Februarrevolution 1917 sieht Lenin den ersehnten Augenblick herangereift. In hitzigen Debatten kann er die meisten seiner Mitstreiter für die in seinen Aprilthesen konzipierte Machtergreifung gewinnen. Konsequent nutzt er die einmalige Chance, über die Rätebewegung der Arbeiter, Bauern und Soldaten seine zahlenmäßig kleine bolschewistische Partei ans Staatsruder zu bringen. Den Hauptanteil an der nahezu friedlichen Machtergreifung hatte der sich erst im Sommer 1917 Lenin anschließende Leo Trotzki. Die bereits von den Massen begonnene Aufteilung des Großgrundbesitzes, Arbeiterkontrolle und Übernahme von Betrieben sanktioniert der II. Gesamtrussische Sowjetkongress, auf dem mehrheitlich die neue Regierung mit ihrem Vorsitzenden Lenin gewählt wird. Die neue Macht entspricht dem Willen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung und beendet das Massensterben an den russischen Fronten. Als die Bolschewiki jedoch in den ersten freien Wahlen nur 25 Prozent der Wählerstimmen erhalten und die anderen (mehrheitlich) sozialistischen Abgeordneten eine bolschewistisch-sozialrevolutionäre Minderheitenregierung nicht akzeptieren wollen, jagt Lenin im Januar 1918 kurzerhand die Konstituante auseinander. Dadurch erweitert er die Front der Gegenkräfte des Bürgerkrieges und der ausländischen Intervention. Nun sieht sich Lenin veranlasst, Staatsterrorismus anzuwenden. Und begründet diesen: »Ein kluger Schriftsteller (Machiavelli) auf dem Gebiet der Staatsangelegenheiten sagte zutreffend, dass, wenn es für die Verwirklichung eines bestimmten Zieles notwendig sei, eine Reihe von Grausamkeiten zu begehen, man diese auf energische Art und Weise und in kürzester Zeit ausführen müsse, denn eine lange andauernde Anwendung von Grausamkeiten ertrügen die Massen nicht. Je größer die Anzahl der Vertreter der reaktionären Bourgeoisie und Geistlichkeit ist, die zu erschießen uns aus diesem Anlass gelingt, desto besser. Gerade jetzt muss diesem Publikum eine solche Lehre erteilt werden, dass es auf Jahrzehnte an irgendeinen Widerstand nicht einmal zu denken wagt.« War Lenin der Machiavelli Sowjetrusslands? Jedenfalls scheint er in den letzten Monaten vor seinem Tod am 21. Januar 1924 größeren und furchtbareren Terror unter seinem möglichen Nachfolger Stalin erahnt und befürchtet zu haben. Weshalb er vor diesem die Genossen zu warnen versucht hatte. Bekanntlich vergebens. Wie beurteilt der damalige und heutige Leser die Aufforderung des höchsten Mannes im Staates im Januar 1918, die später gedruckt worden ist (Werke, Bd. 26. S. 413): »(Tausenderlei Formen und Methoden der praktischen Rechnungsführung und Kontrolle über die Reichen, über die Gauner und Müßiggänger müssen erprobt werden) Mannigfaltigkeit ist hier eine Bürgschaft für Lebensfähigkeit, Gewähr für die Erreichung des gemeinsamen einheitlichen Ziels: die Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen - den Gaunern, von den Wanzen - den Reichen usw., usf. An einem Ort wird man zehn Reiche, ein Dutzend Gauner, ein halbes Dutzend Arbeiter, die sich vor der Arbeit drücken, ins Gefängnis stecken. An einem anderen Ort wird man sie Klosetts reinigen lassen. An einem dritten Ort wird man ihnen nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe aushändigen, damit das ganze Volk sie bis zu ihrer Besserung als schädliche Elemente überwache. An einem vierten Ort wird man einen von zehn, die sich es Parasitentums schuldig machen, auf der Stelle erschießen.«

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