Wer Sozialhilfe braucht, muss Geduld haben

Neue Gesetze und abgeschafftes Ticket führen zu Ansturm in Amtsstuben

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Drei bis vier Stunden Wartezeit sind im Sozialamt in Prenzlauer Berg keine Seltenheit. Wer Pech hat, schmort sogar vier Stunden auf dem Flur. Ohne Termin geht zur Zeit fast gar nichts. Jetzt wird das Amt in der Fröbelstraße 17 auch noch zeitweise geschlossen. Vom Montag an zwei Wochen lang gibt es keine Sprechstunde. Der Bezirk Pankow löst das Sozialamt in der Duseckestraße 43 auf. Den Standort zu sanieren, hätte drei Millionen Euro gekostet, begründet Sozialamtsleiter Detlef Hartwig. Darum zieht der Bereich Materielle Leistungen in die Fröbelstraße um. Möbel müssen transportiert, Akten sortiert werden. In Haus2 ist ein Notdienst eingerichtet. Dieser Tage haben alle Sozialämter in der Hauptstadt mit Aktenbergen zu kämpfen. Den Ressorts der Sozialstadträte bescherte die schon zum 1. Januar 2003 eingeführte Grundsicherung noch einen zusätzlichen Ansturm. Weil die Rentenversicherer bei den Betroffenen falsche Erwartungen weckten, gab es eine Flut von Anträgen. Für die Grundsicherung sorgt der Staat bei Rentnern, denen nicht mehr als 340 Euro übrig bleiben, wenn sie die Miete bezahlt haben. Rund 86000 Berliner hofften auf Unterstützung. Laut Senatssozialverwaltung ist erst rund die Hälfte der Anträge abgearbeitet. In Pankow ist über ein Viertel der 4637 Anträge noch nicht abschließend entschieden. »Mindestens bis Jahresende dauert das noch«, erwartet Amtsleiter Hartwig. Für zusätzliche Arbeit sorgt die Abschaffung des Sozialtickets durch die BVG. 20,40 Euro sind im Regelsatz für Fahrten vorgesehen. Wer öfter in Bus und Bahn steigt, muss das Geld dafür extra beantragen. Das Sozialamt erstattet Einzelfahrscheine. Manchmal kommt es für den Staat jedoch billiger, 38,10 Euro für eine Monatskarte zuzuschießen. Die Sozialämter in Pankow und Marzahn-Hellersdorf prüfen das und bewilligten auch schon Monatskarten. Gerhard Fischer aus dem Ortsteil Niederschönhausen dagegen traf im Pankower Sozialamt in der Dusekestraße nur auf Ablehnung und stand schon kurz davor, dass Amt deswegen zu verklagen. »Die wollten sich meine Fahrkarten nicht einmal ansehen«, schimpft er. Der berufsunfähige Kraftfahrer fährt Einkaufen und einmal die Woche zum Treffen der Schwuleninitiative »40plus« in der Greifenhagener Straße. Der Mann habe ein Recht auf soziale Kontakte, gesteht Sozialsenats-Sprecherin Roswitha Steinbrenner zu. Die dafür notwendigen Touren seien jedoch von den 20,40 Euro zu begleichen, die dafür im Regelsatz vorgesehen sind. Darüber hinaus erstattet bekommen ihre Tickets zum Beispiel Erwerbsfähige, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, Kranke, wenn sie einen Arzt konsultieren, oder Behinderte, wenn sie in ihre Behinderten-Werkstatt wollen. Marzahn-Hellersdorfs Sozialamtsleiter Willi Buhl nennt weitere Faktoren, warum derzeit Geduld gefragt ist: Aufwand bereitet, dass sich jetzt alle Sozialhilfeempfänger bei einer Krankenkasse anmelden. Der Bund regelte, dass sie ab dem 1. Januar 2004 ausnahmslos eine Chipkarte bekommen. Seit dem 1. Januar 2004 gilt ein neues Landespflegegeldgesetz. Dadurch ändern sich die Leistungsansprüche. Dies sei in jeder Akte manuell einzutragen, erläutert Buhl. Mit dem neuen Tarifvertrag im öffentlichen Dienst sank die wöchentliche Arbeitszeit um drei Stunden. Zudem stellte der Bezirk die Computer-Software um. Die Kollegen schauen schon nicht mehr genau auf die Uhr, um der Lage noch Herr zu werden, erzählt Buhl. Doch schließlich griff man in Marzahn-Hellersdorf zum letzten Mittel, verrammelte vom 12. Januar bis zum Freitag die Pforten und kappte die Telefonverbindungen. Für dringliche Angelegenheiten wie drohende Obdachlosigkeit gab es einen Notdienst. In Berlin leben derzeit 261000 Sozialhilfeempfänger- Tendenz leicht steigend.

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