Eine Zukunft auf Stroh gebaut

Der Zuzugsdruck im altmärkischen Ökodorf Sieben Linden bei Salzwedel zwingt die hiesige Wohnungsgenossenschaft zu Überlegungen, wie man preiswerter und dennoch »öko« bauen kann - mit Strohballenwohnhäusern

  • Stefan Tesch, Salzwedel
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
In Jahren, die weniger trocken sind als 2003, herrscht in der deutschen Landwirtschaft ein Überschuss an Stroh. Jeder fünfte Ballen bleibt laut Statistik agrarisch ungenutzt. Er könnte also anderweitig zum bäuerlichen Umsatz beitragen - wenn man wüsste wofür. »Beispielsweise für 350000 Einfamilienhäuser, sofern man diese nicht aus Beton oder Kalk hochzieht, sondern in der sehr kostengünstigen Strohballenbauweise«, behauptet Eva Stützel. Eine mutige These?
Da die 38-Jährige dem Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft angehört, sollte sie wissen, wovon sie spricht. Dass sie zudem im bundesweit geschätzten Altmark-Ökodorf Sieben Linden - einem Ortsteil von Beetzendorf - zu Hause ist, verstärkt fraglos ihre Aussage. Denn einerseits lebt hier bereits eine Hand voll ambitionierter Alternativbauer in einem zweistöckigen Wohnhaus, das sie eigenhändig aus Waldholz, Strohballen und Lehmputz errichtet haben. Zum anderen wuchsen die verbauten Getreidehalme in der Tat gleich nebenan auf Bandauer Fluren. So schaut man in der hiesigen Agrargenossenschaft auch sehr interessiert Richtung Ökodorf.
Denn ihre weitere Zukunft wollen die Sieben-Lindener bevorzugt auf Stroh bauen. Strohpolis nennt sich das Projekt, mit dem sie ein dreistöckiges Gebäude für knapp 20 Bewohner planen. Nicht reine Ökobesessenheit sei hierfür der Antrieb, so Eva Stützel, die das Vorhaben koordiniert, sondern schlicht Zuzugsdruck. »Viele leben bei uns in Bauwagen. Doch wir wollen keine Bauwagensiedlung bleiben, sondern kostengünstig aus ökologischen Materialien Niedrigenergiehäuser bauen«, erzählt sie.

Altmark als Vorreiter bei erneuerbaren Rohstoffen
So biete sich für ihre naturnah orientierte Gemeinschaft diese Bauweise geradezu an. Zumal in der Altmark. Denn im Rahmen eines bundesweit beachteten regionalen Entwicklungskonzeptes richtet Sachsen-Anhalts Norden seine Agrar- und Verbraucherpolitik gezielt neu aus und will sich hierbei auch zu einem Vorreiter für den Einsatz nachwachsender Rohstoffe profilieren. »Die veredelnde Reststrohnutzung als Baustoff wäre doch eine ideale Ergänzung für das landwirtschaftliche Innovationspotenzial der Region«, ist Eva Stützel sicher. Denn zwangsläufig erschließe dies den Bauern neue Einkommensquellen.
Vorerst scheitert alles jedoch an Gesetzesbarrieren wie an landläufiger Skepsis. Häuser aus Stroh gelten als kurzlebig, instabil, leicht entflammbar, anfällig für Schimmel und Nager. So existiert in Deutschland auch kaum Technik zur Herstellung von Baustrohballen. Genau hier setzt nun ein Projekt an, mit dem all jene Vorurteile aus dem Weg geräumt werden sollen und sogar vom Bundesverbraucherschutzministerium gefördert wird.
»Strohballenbautechnik und Herstellung in der Altmark« heißt das ehrgeizige Vorhaben, um Stroh als Baumaterial salonfähig zu machen. Denn zu den zugelassenen Baustoffen gehört es in Dänemark und seit über 100 Jahren auch in den USA, nicht aber hier zu Lande. »Dabei lassen sich mit Strohballen auf einfache Weise sehr umweltfreundliche, regional produzierte Wohnhäuser, Stallungen und Lagerräume erstellen, deren Dämmung Passivhausstandard erreicht«, weiß der Lüneburger Architekt Dirk Scharmer. Er verweist auf garantierte Schadstofffreiheit, hohen Dämmstandard, ein sehr gutes Wohnklima, geringsten Primärenergieeinsatz (und damit Kohlendioxid-Ausstoß), umweltverträgliche Herstellung und geringen Ressourcenverbrauch.
So betritt die Wohnungsgenossenschaft Sieben Linden nun gemeinsam mit Bandauer Landwirten, dem von Scharmer geleiteten Fachverband Strohballenbau Deutschland e.V. sowie der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) in Braunschweig Neuland: Sie errichtet das erste regulär genehmigte dreigeschossige Strohballenwohngebäude zwischen Nordsee und Alpen. Doch das ist den Altmärkern bereits zu wenig. Um sich für Nachfolgebauten nicht stets aufs Neue von einer Ausnahmegenehmigung zur nächsten hangeln zu müssen, soll Rechtssicherheit für diese Nische her. Mit einem allgemeinen bauaufsichtlichen Prüfzeugnis (AbP), das der Strohfachverband unlängst erlangte, sei »die Verwendbarkeit von Strohballen als Baustoff dem Grunde nach erwiesen«, denkt Scharmer. So beantragte er nun beim Deutschen Institut für Bautechnik eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung. Sie ist die rechtliche Grundlage für eine reguläre Verwendung als Dämmstoff in Deutschland.
Und er ist guter Dinge, auch dieses Papier Mitte 2004 in den Händen zu halten. Denn ein Feuerwiderstandstest an der Materialprüfungsanstalt Braunschweig ergab bereits, dass einer lediglich lehmverputzten Strohballenwand auch 90 Minuten Feuer nichts anhaben können. »Somit können Strohballen auch in Gebäuden eingesetzt werden, deren Brandschutzanforderungen die eines Einfamilienhauses übersteigen«, freut sich der Architekt. Als nächstes stehen nun Prüfungen der mechanischen Belastbarkeit von Strohballen und ein Schimmeltest an.

Hoffnung auf mehr Touristen
Die Strohballenbauer in Sieben Linden sind aber gedanklich schon weiter. Längst stricken sie an einem regionalen Netzwerk von Planern, Landwirten und Handwerkern, um in der Altmark eine kooperative Strohballenhaus-Produktion aufzubauen. Man erhofft sich touristische Effekte, setzt auf neue Jobs. Mit der FAL sind überdies Tests zu geeigneten Getreidesorten und Anbauweisen geplant, die eine konstante Qualität sichern. Außerdem soll mit Messfühlern permanent das Baustoffverhalten sowie das Raumklima während des Baus bzw. im bewohnten Zustand überwacht werden.
Mit Strohballen selbsttragende Wände herzustellen, wie es die Vorväter in Amerika taten, ist indes noch nicht beabsichtigt. Denn einen bauaufsichtlichen Verwendbarkeitsnachweis für die Tragfähigkeit von Strohballen zu erlangen, erfordere einen ungleich höheren Aufwand als den bisher betriebenen, weiß Scharmer. Daher zimmern die Altmärker zunächst ein hölzernes Fachwerk, füllen es komplett mit Strohballen aus und verputzen diese mit Lehm. »Das wird sicher nicht ganz billig, da auf einer unebenen Fläche verputzt wird. In der Summe ist es aber preislich akzeptabel, zumal für diese Top-Ökoqualität - und als solche wesentlich billiger als bisherige Ökobauhäuser«, versichert die Koordinatorin. Die bundesweite Ausstrahlung ihres Projektes sei denn auch beträchtlich. Seit den ersten Strohballenbau-Seminaren Mitte 2002 hätte es bereits Dutzende Fachleute und Selbstbauinteressenten auf ihrer Lernbaustelle in Sieben Linden gelockt.
Einer der gefragtesten Dozenten ist dann Martin Stengel. Der junge Ingenieur vom Bodensee zählt zu den Erbauern des Strohballenhauses im Ökodorf. Derzeit richtet er sich gerade das Obergeschoss wohnlich vor. Sein Klavier, mit dem er Chorproben und Musikseminare in Sieben Linden vorbreitet, hat er bereits zwischen Fachwerkbalken und Lehmputzwänden platziert. Es sei schon ein irre gutes Gefühl, gesteht der 37-Jährige, sich nicht nur ein eigenes Haus gezimmert zu haben, s...

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