Der große Bluff des Colin Powell

Vor einem Jahr »bewies« der USA-Außenminister die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen

Ein Jahr nach seinem Auftritt im UN- Sicherheitsrat hat USA-Außenminister Colin Powell jetzt in einem Interview mit der »Washington Post« an der Begründung des Weißen Hauses für den Krieg gegen Irak gezweifelt. Er wisse nicht, ob er sich für die Invasion ausgesprochen hätte, wenn bekannt gewesen wäre, dass Bagdad keine Massenvernichtungswaffen hat.

In den Tagen vor dem 5. Februar 2003 sah man Colin Powell häufig über Dokumenten der US-amerikanischen Geheimdienste sitzen. Augenzeugen berichten von einem immer wieder unwilligen Außenminister, der Papiere vom Tisch fegte und kaum druckreife Worte für das Dossier über die angebliche Bedrohung durch Saddam Hussein fand. Aber das alles hielt den als Taube im Washingtoner Falkenstall gerühmten einstigen Generalstabschef der USA-Streitkräfte dann doch nicht davon ab, im Weltsicherheitsrat im Brustton vollster Überzeugung und mit vielen bunten Bildern garniert einen ellenlangen irakischen Sündenkatalog zu präsentieren. Nachrichtendienstlich abgesicherte Fakten und wasserdichte Beweise (»facts and conclusions based on solid intelligence«) wollte er auf der für eine Kriegslegitimierung entscheidenden Sitzung des höchsten UNO-Gremiums mit seiner Hollywood-reifen Multimediashow präsentieren, um Bagdad schwere Verstöße gegen die Sicherheitsratsresolution 1441 nachzuweisen.
Doch in seinem 75-minütigen Vortrag schrumpften die angekündigten apokalyptischen Offenbarungen zur fragwürdigen Spekulation. Mit Aufnahmen von NSA-Himmelsspionen und diversen Bauplänen wurde die Fantasie angeheizt: mobile Giftlabors, unterirdische Chemiefabriken, Biowaffen-Fässer in Bunkern, Anlagen zur Urananreicherung - es gab nichts, was Saddam Hussein nicht hatte. Laut »konservativer Schätzung« beispielsweise 100 bis 500 Tonnen chemischer Waffen. Vorher-Nachher-Fotos und abgehörte Telefongespräche sollten belegen, wie die UNO-Waffeninspektoren ausgetrickst wurden. Und die Geheimdienste wüssten noch viel mehr, erklärte der USA-Außenminister, nur dürften die Erkenntnisse aus Sicherheitsgründen nicht vorgelegt werden.
So war Powells Ein-Mann-Schau vor allem Wahrnehmungspsychologie - und provozierte postwendend Fragen. Eine der harmloseren: Warum wurden all diese angeblichen Erkenntnisse, augenscheinlich schon etwas älter, nicht längst den UN-Inspektoren zugänglich gemacht, wie in entsprechenden Resolutionen des Weltsicherheitsrats festgelegt?
Aber wer an diesem 5. Februar 2003 genau hinsah und -hörte, durfte schon damals bei vielen »Beweisen« zweifeln. Unscharfe Fotos, letztlich unbekannte Anlagen, unbestimmte Spuren, unwissenschaftliche Zeichnungen nach Hörensagen, alles in allem viele ungewisse Angaben, ein Reizüberflutung durch Indizien, eine Dämonisierung des Feindes, aber wirklich stichhaltige Belege für jederzeit einsetzbare irakische Massenvernichtungswaffen hatte Powell nicht im Ärmel.
Statt Assen nur Luschen, wie auch wenige Stunden nach dem Auftritt deutlich wurde. Da hatte der Mann aus Washington in seinem Vortrag ein Dossier aus London in höchsten Tönen gelobt (»Ich würde gern die Aufmerksamkeit meiner Kollegen auf dieses feine Papier des Vereinigten Königreichs lenken, das die Täuschungen der Iraker in exquisiten Details beschreibt.«). Nun musste die britische Regierung zugeben, dass das Bedrohungsszenario schamlos aus einer Studentenarbeit abgeschrieben wurde. Von einem »skandalösen« Plagiat war in der britischen Presse die Rede, nachdem der Fernsehsender Channel 4 enthüllt hatte, dass mindestens 10 von 19 Seiten des Irak-Dossiers aus frei verfügbaren wissenschaftlichen Arbeiten zusammengestoppelt worden waren und ein großer Teil der »soliden« Informationen von Ibrahim al-Marashi aus Kalifornien stammte und zwölf Jahre alt war (»Die haben sogar meine Fehler übernommen.«).
Fast zeitgleich meldete die BBC, der militärische Geheimdienst ihrer Majestät wiederum halte die von Washington behaupteten Verbindungen zwischen Osama bin Laden und Saddam Hussein für absurd. Die Positionen der in Bagdad herrschenden Baath-Partei stünden im scharfen Gegensatz zu den religiösen Ansichten des Terrornetzwerkes Al Qaida. Aber das hätte Powell auch von der CIA erfahren können, die solche Zusammenarbeit ursprünglich ebenfalls bestritten hatte.
Wenig später wiesen die UN-Chefinspekteure Hans Blix und Mohamed al-Baradei den US-amerikanischen Geheimdiensten von Powell übernommene peinliche Fälschungen nach. Bagdad war vorgeworfen worden, zwei Jahre zuvor in Niger auf Uran-Jagd gegangen zu sein. Die Überprüfung der Angaben jedoch ergab keinen Hinweis auf atomare Aktivitäten, wohl aber plumpe Dokumentenmanipulationen. Die Waffeninspekteure wiesen überdies nach, dass die von Powell als Beweis herangezogenen illegal importierten Aluminiumröhren keineswegs für den Bau von Zentrifugen zur Urananreicherung geeignet waren.
Damals zeigte sich Powell gegenüber dem Fernsehsender ABC noch hundertprozentig von der Stichhaltigkeit seines Irak-Dossiers überzeugt: »Ich habe bessere Informationen als die Inspektoren - und ich denke auch, ich habe mehr Mittel zur Verfügung als sie.« Es dauerte noch ein Jahr, bis der USA-Außenminister erstmals öffentlich Selbstzweifel bekundete: Es sei möglich, dass Irak vor Beginn des Krieges im vergangenen Jahr keine Massenvernichtungswaffen gehabt habe, erklärte er am 25. Januar fern der Heimat in Georgien. Er selbst jedenfalls sei bei seinem Auftritt vor den Vereinten Nationen davon ausgegangen, dass Saddam Hussein solche Waffen habe.
Schon bisherige Anhörungen zum Thema im Kongress belegen jedoch, dass da der Wunsch Vater des Gedankens im Weißen Haus war und mit Nachdruck in die zuständigen Geheimdienste getragen wurde. Der einstige USA-Waffeninspekteur David Kay hat diesen gerade Versagen vorgeworfen. Er gehe jetzt auf alle Fälle davon aus, dass keine irakischen Massenvernichtungswaffen existierten - und sprach aus, was zuvor auch Studien renommierter Institute wie der Washingtoner Denkfabrik »Carnegie Endowment for International Peace Institute« analysiert haben. Inzwischen wurde die Zahl der einst 1400 US-amerikanischen Waffenfahnder in Irak drastisch reduziert.
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Condoleezza Rice:
»Es gibt eindeutige Kontakte zwischen Al Qaida und Irak.« 25. 9. 2002

Tony Blair:
»Seine Raketen sind binnen 45 Minuten einsatzbereit.« 24. 9. 2002

José María Aznar:
»Wir alle wissen, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt.« 5. 2. 2003

Angela Merkel:
»Die Bedrohung durch Saddam Hussein und seine Massenvernichtungswaffen ist real.« 8. 2. 2003
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Spätestens mit dem Rücktritt des konservativen Bush-Anhängers Kay dürften im Weißen Haus alle Alarmglocken geschrillt haben. Zumal ein anderer Gefolgsmann aus früheren Tagen die politischen Gewichte des Skandals zurechtgerückt hat. Der geschasste Finanzminister Paul O'Neill warf George W. Bush vor, er habe den Irak-Krieg seit Amtsantritt und damit lange vor dem 11. September 2001 geplant. »Von Anfang an herrschte die Überzeugung, dass Saddam Hussein weg müsse«, erinnerte er sich. Kritische Fragen habe keiner im USA-Sicherheitsrat gestellt. »Der Präsident sagte: "Findet mir einen Weg, es zu tun"«, erzählte O'Neill der CBS-Reporterin Leslie Stahl.
Als Powell im Weltsicherheitsrat sprach, befanden sich die Einmarschvorbereitungen längst im Endstadium - inklusive detaillierter Szenarien für eine irakische Nachkriegsordnung, wie in einem jetzt erschienenen brisanten Enthüllungsbuch zu lesen ist. 19000 Seiten interne Dokumente, die Pulitzer-Preisträger Ron Suskind, einst Reporter des »Wall Street Journal«, für »The Price of Loyalty« gesammelt hat, stützen O'Neills Erinnerungen. »Es gibt Memos. Eins davon, "geheim" gestempelt, lautet: "Plan für Irak nach Saddam"«, sagt Suskind. Sein Datum: Januar 2001. Ein Pentagon-Dokument (»Ausländische Bewerber um irakische Ölfeld-Verträge«) stammt vom 5. März 2001. Außenminister Colin Powell jedoch wollte auch zwei Monate nach dem 11. September 2001 davon noch nie gehört haben. Und O'Neill betont auch: »In den 23 Monaten, die ich im Amt war, habe ich nie irgendetwas zu sehen bekommen, was ich als Beweis für Massenvernichtungswaffen charakterisieren würde.«
Die Zahl der Kritiker an Powells Auftritt war schon vor einem Jahr groß. Doch lang war auch die Liste jener, die sich beeindruckt zeigten, vom britischen Außenminister Jack Straw bis zur CDU-Chefin Angela Merkel. »Der Auftritt, das ist nicht zu leugnen, war fulminant. Vorübergehend hat der amerikanische Außenminister den UN-Sicherheitsrat in eine Art Weltgerichtssaal verwandelt«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Hier zu Lande war nicht nur die Union überzeugt von der Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen; deutsche Nachrichtendienste haben sogar vermeintlich sichere Erkenntnisse über das Bagdader Gefährdungspotenzial präsentiert. Und selbst jetzt noch versucht CDU-Außenpolitiker Friedbert Pflüger, die Melange aus bewussten Lügen und Halbwahrheiten zu verteidigen. Es habe zwar »illegitime Überspitzungen« der Geheimdienste gegeben, doch seien Saddams ABC-Waffen auch nach den Eingeständnissen von Kay oder Powell »nicht zum Hirngespinst von George W. Bush mutiert«.
Er sehe sich in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Regierung die von Irak ausgehende Bedrohung übertrieben habe, meint dagegen John Kerry, der mögliche demokratische Herausforderer Bushs bei den Präsidentschaftswahlen im November. »Wir wurden in die Irre geführt, nicht nur von den Geheimdiensten, sondern auch in der Art und Weise, wie uns der Präsident in den Krieg geführt hat.« Im Weißen Haus und in London fürchtet man, nun von der Wahrheit politisch eingeholt zu werden, und hat die Flucht nach vorn angetreten. Die Ankündigung von unabhängigen Untersuchungskommissionen soll vor allem den Druck von dem im Wahlkampf stehenden George W. Bush nehmen - auch weil die Ergebnisse erst im nächsten Jahr vorliegen werden. Zudem dürfe das Gremium nicht nur zurückblicken, sondern müsse vor allem nach vorne schauen, »wie wir das Sammeln von Geheimdienstinformationen verbessern können, um uns den neuen und gefährlichen Bedrohungen unserer Zeit zu stellen«, ist aus dem Weißen Haus zu hören. Der demokratische Vizevorsitzende des Geheimdienstausschusses des Senats, Jay Rockefeller, fordert hingegen, dass die Untersuchung noch vor der Präsidentenwahl im November beginnen und sich auch darauf erstrecken müsse, wie die Geheimdienstinformationen von denjenigen genutzt worden sind, die die Entscheidung für den Krieg trafen. »Die Glaubwürdigkeit Amerika...

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