»Das Heimweh versteck ich hinter den Wimpern«

Wie »Umsiedler« die DDR-Literatur besiedelten

  • Christel Berger
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Das Vertriebenen-Problem zählte in der Literatur der DDR zu den Tabuthemen ersten Ranges«, so Ulf Heise in der »Märkischen Allgemeinen« vom 26. Januar. Es ist durchaus möglich, dass der Rezensent von Christoph Heins »Landnahme« den Satz bereits irgendwo abgeschrieben hat, denn diese Meinung scheint die heute gültige zu sein. Richtig ist sie dennoch nicht. In der Literatur war es eben doch etwas anders als in der übrigen Öffentlichkeit der DDR.
Seit Maria Langners »Die letzte Bastion« (1948) und Annemarie Reinhards »Treibgut« (1949) hat es immer wieder Versuche gegeben, Schicksale von heimatlos Gewordenen zu gestalten oder aber die endgültig verlassene Heimat zu thematisieren. Vor allem Betroffene schrieben darüber, aber auch Schriftsteller, die Flucht und Vertreibung nicht selbst erlebt hatten (u. a. Anna Seghers, Günter de Bruyn, Helmut Sakowski, Erik Neutsch). Freilich gab es dabei von offizieller Seite mehr Behinderungen als Ermunterung, denn das Thema war politisch ein heißes Eisen. Unmittelbar nach 1945 hatten selbst die Parteioberen da nicht ganz durchgesehen. Wilhelm Pieck beispielsweise hatte anfangs auf einem deutschen Recht auf Stettin bestanden, wurde jedoch von den Sowjets zurückgepfiffen.
Vor allem aber ging es um die Menschen, die in das kaputte Land strömten. Es waren nicht wenige, zeitweise soll ihr Bevölkerungsanteil in Mecklenburg über 65 Prozent betragen haben. Umsiedler hießen sie offiziell, und allmählich wurde diese Bezeichnung üblich. Das Wort klingt freundlich, nichts deutet darauf hin, dass ein erbarmungsloser Zwang hinter der Umsiedlung gestanden hatte, mit dem Leid und Entbehrungen verbunden waren. Schnell integriert sollten sie werden - in einer Zeit, da viele in den Städten ausgebombt waren, da größter Mangel herrschte und jeder sich selbst der Nächste war. Freundlich war die Aufnahme meist nicht, und viele blieben lange in den Augen der Einheimischen die Fremden.
Nachdem Wohnungs- und Arbeitsprobleme der Umsiedler (und die Rolle der Bodenreform dabei war gewaltig!) einigermaßen geklärt waren, gab es nach Ansicht der führenden Genossen keinen Grund mehr, ihren Erlebnissen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, 1950 wurde schon von »ehemaligen Umsiedlern« gesprochen. Vergessen, verdrängen sollten sie die schlimmen Sachen, denn die Unantastbarkeit der neuen Grenzen war eisernes Gebot. Vorwärts zum Aufbau des Sozialismus! - das Engagement dabei heilt alle Wunden! Kein Erinnern, keine Traditionspflege, wir alle sind Bürger der DDR!
So wird verständlich, dass Umsiedler und mehr noch »Umsiedlerinnen« in der Literatur dieser frühen Jahre diejenigen waren, die dankbar das erhaltene Bodenreformland bestellten und manchmal »vernünftiger« als die Einheimischen auf den Aufbau gerechter Verhältnisse und die Mehrung der Güter drangen. Frau Flinz (aus dem gleichnamigen Drama von Helmut Baierl, 1961) oder Anna Nieth (Anna Seghers: Die Umsiedlerin, 1950; Niet ohne h bei Heiner Müller, 1961) waren solche zupackenden praktische Frauen, die keine Zeit zu haben schienen, an Vergangenes zu denken. Dahinter stand zwar ein pragmatisches Konzept, das die Sensibilität und Eigenart des Menschen wenig berücksichtigte. Aber werden Verluste nicht umso öfter erinnert, wenn es verpönt oder gar verboten ist, darüber zu reden?
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Über die Weichsel mit dem Treck bei Eisgang
War meine erste Reise. Die Pferde gingen
Zu den Fischen, gezogen von den Wagen, und
Die Bauern, weil sie ihrs nicht lassen wollten
Gingen den Pferden nach, und was der Pole
Nicht hatte kriegen solln, die Weichsel hats.

Aus: Heiner Müller: Die Umsiedlerin
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Manche sprachen vielleicht darüber im Familienkreis. Aber selbst im Privaten hielten sich viele an das öffentliche Gebot: nach vorn zu blicken. Würde nicht jedes Darüber-Reden den Wunsch nach Rückkehr, nach Zurück-Bekommen schüren? Das beste Beispiel dafür waren die Vertriebenenverbände im anderen deutschen Staat, bei denen solche Forderungen allenthalben laut wurden. Und selbst im »halböffentlichen« Raum wurde dieses pragmatische Konzept - bewusst oder unbewusst - bedient.
Als ich 1949 in die Schule kam, waren die »Umsiedlerkinder« der Klasse noch kenntlich: Deren Strümpfe waren noch etwas mehr gestopft als meine. Sie wohnten in Baracken am Stadtrand. Das Staunen eines Mädchens über meine uralte Puppenstube hat mir damals zu denken gegeben. Als ich nach vier Jahren die Schule wechselte, waren die neuen Klassenkameraden nicht mehr unterscheidbar in einheimische und zugezogene, und ich kann mich nicht an Gespräche erinnern, wo das eine Rolle spielte. Hatten die einen Schweigen, bzw. ihr Erleben zu verdrängen gelernt? Wahrscheinlich interessierten wir anderen uns auch nicht für vergangene Ängste und Schicksale der Spielgefährten, schließlich hatten wir in den Bombenkellern auch Angst ausgestanden und in den Nachkriegsjahren Hunger gehabt. Oder war das Tagesgeschehen wirklich so dominant, dass Vergangenes endgültig vergangen schien?
Es ist nicht leicht, in einer solchen Lage das Tabu, öffentlich darüber zu reden, zu brechen. Einer der ersten und ganz wichtigen in einer langen Reihe von Schriftstellern war Johannes Bobrowski, 1917 in Tilsit geboren, 1965 in Berlin gestorben. Er besang in Gedichten die Schönheit der verlassenen Heimat - »Sarmatische Zeit« (1961) und »Schattenland Ströme« (1962). Die Dramatik des Zusammenlebens von Slawen, Deutschen und Juden in Westpreußen und Litauen seit Jahrhunderten (u.a. »Levins Mühle« 1964, »Litauische Claviere« 1966) war sein Thema. Als Angehöriger der »Bekennenden Kirche« während der Nazizeit hatte er Kontakte zum christlichen Widerstand gehabt, und als Verlagslektor eines christlichen DDR-Verlags schaffte er sich einen eigenen Spielraum. Seine Bücher wurden in der DDR veröffentlicht, die literarische Qualität seiner Texte begründete seine rasche Anerkennung in der Bundesrepublik und im Ausland.
Es war kein Konkurrenzneid, sondern ehrliche Überzeugung, die den damals noch staatstreuen Franz Fühmann bewog, die Arbeit Bobrowskis kritisch zu sehen, und er stand damit nicht allein. Er meinte, so würden Wunden offen gehalten. Nichtsdestotrotz schrieb er 1962 die Erzählung »Böhmen am Meer«, in der er den zupackenden Umsiedlerinnen seiner Kollegen eine nicht weniger tüchtige Frau Traugott zur Seite stellte: Aus Böhmen an die Ostsee »umgesiedelt«. Der Ich-erzählende Schriftsteller erlebt sie als verhärmte, traurige Frau und erfährt allmählich ihr Schicksal: eine schlimme Geschichte aus Böhmen mit allen Klassengesellschafts-Klischees zwischen Herr und Dienstmagd. Es ist also nicht der Verlust der Heimat, der Frau Traugott traurig macht, es ist der falsche Ort, an den es sie verschlagen hat, die Todesangst vor dem Meer, die sie ihr Leben lang nicht verlassen wird. Bei aller ideologisch abgesicherten Konstruktion: Die verhärmte, nicht mehr glücklich werdende Umsiedlerin Traugott war eine fast symbolische Figur, die den Lesern haften blieb.
Ein Jahrzehnt später revidiert Franz Fühmann in seinem Ungarn-Tagebuch »22 Tage oder die Hälfte des Lebens« seine frühere Haltung gegenüber der Lyrik Bobrowskis: »Ich hatte wohl eine ehrenhafte, aber sehr enge Auffassung vom Bewältigen der Vergangenheit, und ich bin auch dem eignen Lied auf die Kehle getreten. Doch aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen, kein einziger Aspekt und kein einziges Gefühl, sie lassen sich nur in Hegels Sinn aufheben. Nicht ein "Es war nie gewesen" und auch nicht ein "Als ob es nie gewesen wäre", sondern nur ein "Es war so und ist vorbei" ist der sichere Grund, ein Neues zu bauen.« Wie so oft bei ihm , bewirkt die kritische Überprüfung eigenen Verhaltens und Denkens Klarheit und Rigorosität, die so prononciert selten ist.»Ehrenhaft ..., aber eng« - die Formulierung enthält viel von der damaligen Hilflosigkeit. Denn wie sollte man mit dem Schmerz über einen Verlust umgehen, dessen Unwiederbringlichkeit politisch begründet und nicht anzutasten war? Fühmanns weiterem späteren Arbeiten werden sowohl das frühere Zusammenleben von Deutschen und Tschechen als auch die vergebliche Heimatsuche des Schriftstellers wiederkehrende Themen sein, und seine bittere Klage, nie eine Heimat gefunden zu haben, wird Teil eines wenig freudvollen Lebens und umso reicheren literarischen Schaffens.
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Das Heimweh
versteck ich hinter den Wimpern,
den Schmerz schließ ich ein.
Mit der Schneeschmelze
ist eine neue Tröstung gekommen.
Unter den Lidern,
sanft,
mit gebrochenen Flügeln,
rührt sich
der Vogel
Traum.
(Aus: Armin Müller: Meine schlesischen Gedichte)
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Für die vielen, die danach Schicksale von Vertriebenen erzählten, war das Tabu zumindest wacklig genug, um es nun mehr und mehr zum Stürzen zu bringen. Sie alle - und ich nenne nur einige: Helga Schütz, Armin Müller, Günther Rücker, Werner Heiduczek, Christa Wolf, Hanns Cibulka, Hildegard Maria Rauchfuß, Benno Voelkner, Hans-Jürgen Steinmann, Alfred Wellm, Ursula Höntsch-Harendt, Elisabeth Schulz-Semrau, Reinhard Jirgl, Harald Gerlach - hatten jeder auf eigene Weise Anteil daran.
So hat Alfred Wellm 1975 etwa ein Drittel seines Romans »Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr« Erlebnissen auf der Flucht gewidmet. Nichts von den Grausamkeiten, die die Frauen und Kinder mit dem alten Fischer Komarek als Anführer des kleinen Trupps erlebten, ist gemindert. Christa Wolf erzählt ein Jahr später in »Kindheitsmuster« von Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten (bei ihr sind es aus der Roten Armee desertierte!). Eine entsprechende Passage in Werner Heiduczeks »Tod am Meer« 1977 veranlasste den Protest der sowjetischen Botschaft, was jede weitere Auflage verhinderte.
Freilich waren die Dienst tuenden Literaturwissenschaftler , was etwa bei diesem Thema hieß:»Die "Flucht" der Deutschen, (...) ist wohl auch kaum als selbständiger geschichtlicher Vorgang erzählbar, weil sie nur als Ergebnis der Vorgeschichte faschistischer Verbrechen historisch bewertet werden kann, die mindestens zwölf Jahre früher beginnen und eine Jahrhunderte lange Tradition in der preußischen Eroberungs- und Unterdrückungspolitik haben.« So rügte damals ein um politische Korrektheit bemühter Rezensent. Aber zu Wellms Roman, dabei übersehend, dass gerade Alfred Wellm die ganze lange und bittere Geschichte nicht bemühte, denn Literatur ist nur bedingt ein Geschichtsbuch, vor allem ist sie das Festhalten von Geschichten und Schicksalen einzelner.
Wellms kleiner Fluchttrupp - das sind verängstigte Frauen und Kinder, Opfer und Leidtragende des Krieges, manche verblendet, andere ernüchtert. Wie sie am Wegrand Frau Puwalewskis Baby begruben, wird keiner von ihnen vergessen, und dennoch ging es Alfred Wellm nicht nur darum, als er das Buch schrieb. Für ihn ist Flucht und Vertreibung Teil und Ergebnis des Krieges gewesen und genau so verstanden, gehörte das Kapitel Flucht und Heimatverlust Mitte der siebziger Jahre zum »Grundwissen« der meisten Leser.
Neue Bücher - etwa von Ursula Höntsch-Harendt und Elisabeth Schulz-Semrau - trafen da schon auf eine etwas veränderte Atmosphäre. Wobei das Thema heikel blieb. Das bekam Elisabeth Schulz-Semrau zu spüren, als sie über ihre Kindheits- und Jugendjahre in Königsberg schreiben wollte. Allein schon die alte Heimat zu besuchen, bereitete Schwierigkeiten. Nach Polen und nach Böhmen konnte man immerhin reisen, und viele nutzten die Gelegenheit, die von ihnen unter widrigen Umständen verlassenen Orte und Häuser nach Jahrzehnten wiederzusehen. Die Empfindungen dabei waren wohl so unterschiedlich, wie Menschen halt sind.
Wenn da Wunden sind und Narben, Literatur kann den Schmerz nicht heilen. Sie kann Erinnerung bestätigen und bestärken, kann Einsichten und Zusammenhänge befördern, vielleicht Gedanken und Gefühle artikulieren, auf die man nicht selber kam. In diesem Fall ist sie Hilfe zur Selbsthilfe, mehr nicht und dennoch viel. Es gibt und wird in Zukunft neue Bücher geben, die andere Aspekte und Erfahrungen von damals zur Sprache bringen. Ob es jedoch den großen Roman geben wird?
Dass gegenwärtig das Thema Flucht und Vertreibung mehr als vor Jahren die Medien beschäftigt, hat vor allem politische Gründe. Hintergrund ist nicht zuletzt die EU-Osterweiterung. Dass viele Menschen heute lauter als früher fordern, ihre persönlichen Erlebnisse von Flucht und Vertreibung erzählen zu dürfen und angehört werden zu wollen, hat auch mit der veränderten Öffentlichkeit und Kommunikation zu tun. Auf der Konferenz »Flucht, Vertreibung und Erinnern« des Thüringer Forums für Bildung und Wissenschaft e.V. Ende Januar in Jena bestätigte es sich erneut: Dass es Literatur zu »ihrem« Thema gab und gibt, mag für die Menschen aus den Masuren oder aus Böhmen zwar als Bestätigung ihres Schicksals gelten, aber dringlicher ist ihnen, selber über die ganz eigene Erfahrung zu reden. Es sind die Letzten, die Flucht und Vertreibung persönlich erlebt haben. Der Zwang zum Erzählen ist Teil einer Trauerarbeit, zu der in der DDR nicht angeregt und ermuntert wurde. Diese »Letzten« erzählen auch im Namen der Eltern und Großeltern.
Franz Fühmanns Frau Traugott mag mittlerweile - verhärmt und unglücklich geblieben - gestorben sein. Der strahlende Sohn, dem der Autor 1962 eine glückliche, von den Ängsten der Mutter freie Zukunft verhieß, ist in die Jahre gekommen und hat mehr von der Mutter geerbt, als man sich das 1962 vorstellte. Der Enkel sollte wissen, wo die Wurzeln seiner Großmutter lagen und die ganze komplizierte Historie kennen, die mit dem Schicksal seiner Ahnen und dem ve...

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