Weiße Bänder am Grab

Tragische Fluchtversuche an der Berliner Mauer im Februar 1989

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Mit unserer Serie gehen wir ein Jahr lang immer mittwochs auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt werden eine Rolle spielen. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.
Am 23. Februar 1989 gab es acht Trauerfeiern auf dem Städtischen Friedhof Baumschulenweg. Sieben fanden im Kreise von Hinterbliebenen und Freunden statt. Die um 14 Uhr angesetzte Beerdigung hingegen zog weitere Gäste an. Zwei Tage vorher war in der »Berliner Zeitung« eine Traueranzeige erschienen. Von einem »tragischen Unglücksfall« war darin die Rede. Keine ungewöhnlichen Worte im Rahmen einer Traueranzeige, zumal der Tote erst 20 Jahre alt war. Zu Chris Gueffroys Beerdigung kamen außer Freunden und Familienangehörigen Journalisten. »Es waren ungefähr zehn Kollegen«, erinnert sich Monika Zimmermann, damals Ost-Berlin-Korrespondentin der F.A.Z. Zimmermann hatte von Kollegen von der Beerdigung erfahren. Ob die Anzeige in der Zeitung der Auslöser der Information gewesen war oder eine Mitteilung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, die durch die Familien Gueffroy und Gaudian auf den Fall aufmerksam gemacht wurde, kann die heutige Chefredakteurin der »Mitteldeutschen Zeitung« nicht mehr verifizieren. Klar war nur, dass es sich um ein Politikum handelte. Chris Gueffroy hatte in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 gemeinsam mit seinem Freund Christian Gaudian versucht, über die Grenze zwischen Ost- und Westberlin zu kommen. Beide hatten geglaubt, dass an der Mauer nicht mehr geschossen würde. Aussagen von Politikern sowie eines Bekannten bei den Grenztruppen hätten sie zu dieser Annahme geführt, sagte Gaudian zwei Jahre später beim Prozess gegen die Grenzsoldaten aus. Die Hinterlandsmauer konnten Gaudian und Gueffroy, die sich bei der Ausbildung zum Kellner kennen gelernt hatten, überklettern. Nun trennte sie nur noch ein Metallgitterzaun sowie der Britzer Zweigkanal von Neukölln. Rufe ertönten. Ob nur »Halt! Stehen bleiben!« oder auch mit der Warnung »Achtung, wir schießen!« versehen, konnte im Prozess nicht geklärt werden. Gueffroy erhielt einen tödlichen Schuss ins Herz, einen weiteren, so der Gerichtsmediziner Helmut Schmechta, in den rechten Fuß. Ebenfalls eine Schussverletzung am Fuß erlitt Christian Gaudian. Er wurde am 24. Mai 1989 wegen »versuchter Republikflucht« zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Am 17. Oktober 1989 wurde er nach Westberlin abgeschoben. Auf dem Totenschein von Gueffroy stand »Herzverletzung«. Dr. Marcella Krämer, Aufnahmeärztin im VP-Krankenhaus, erklärte 1991 im Prozess gegen die Mauerschützen, ein MfS-Offizier habe ihr befohlen, die ursprüngliche Angabe »Herzdurchschuss« in etwas Unverfänglicheres abzuändern. Heute möchte sich die in Niedersachsen praktizierende Ärztin nicht mehr zu den Geschehnissen im Februar 1989 äußern. Auch Gueffroys Beerdigung stand unter der Kontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit. Vor und auf dem Friedhof wurden Personenkontrollen durchgeführt und Namen notiert. Den Mitarbeitern der Friedhofsverwaltung sei in dieser Zeit das Betreten des Friedhofes verboten gewesen, sagt Frau Peters, heutige Leiterin des Friedhofes Baumschulenweg. Niemand ihrer Kollegen könne daher Auskunft über den Ablauf der Beerdigung geben. Und niemand wolle es. Karin Gueffroy, die Mutter des Toten, lehnt es ab, dem »Neuen Deutschland« Auskunft zu geben. In der Senatsjustizverwaltung heißt es, Akten zum Prozess seien so tief in Archiven vergraben, dass man sie nur mit großer Mühe finden könne. Der Zugang zu dem Fall, der als letzter Toter der Mauer in die Geschichte einging, scheint vielfach verstellt. Juristisch ist der Fall abgeschlossen. Vier ehemalige Grenzsoldaten wurden wegen des Todes von Chris Gueffroy angeklagt. Zwei von ihnen sprach das Berliner Landgericht im Januar 1992 frei, einer erhielt eine Bewährungsstrafe. Der Schütze des tödlichen Schusses wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. In der Berufungsverhandlung wurde das Urteil auf zwei Jahre Bewährung reduziert. Auf dem Grab von Chris Gueffroy liegen frische Blumensträuße. In die Koniferen neben der Grabstelle sind weiße Bänder geknüpft. Ein weißes Band trug einst, wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte oder damit sympathisierte. Gueffroys Grab ist klein, ein Urnengrab mit schlichtem grauen Stein. Der Rücken des Steines lehnt sich an einen anderen. Er steht auch für einen Mann, der im Februar 1989 starb. Dessen Geburtsjahr: 1903. Seit Sommer vergangenen Jahres erinnert eine Stele an Gueffroy. Sie ist auf einer Wiese am Ufer des Britzer Zweigkanals aufgestellt, ungefähr dort, wo der tödliche Schuss fiel. Zwei Pfade führen über die Wiese. Im Osten wird sie von Kleingartenanlagen begrenzt. Im Westen, hinter dem Kanal, auch Kleingartenanlagen sowie eine Kaffeerösterei. In Sichtweite sind zwei blaue Zelte aufgebaut. Ein wackliger Tisch steht draußen, daneben ein paar Stühle. Hundegebell dringt aus einem Zelt. Jemand, der im Winter 2004 offensichtlich keine Wohnung hat, hat sich im Niemandsland zwischen Treptow und Neukölln niedergelassen. Chris Gueffroy war nicht der letzte Tote an der Berliner Mauer. Am 8. März 1989 überflog der 32-jährige Chemieingenieur Winfried Freudenberg mit einem selbst gebauten Ballon bei Reinickendorf die Grenze. Ein Landeversuch in der Nähe des Flughafens Tegel scheiterte. Der Ballon gewann wieder an Höhe. Freudenberg überquerte fast das gesamte Westberliner Stadtgebiet in südwestlicher Richtung. Als bereits die Staatsgrenze bei Potsdam in Sicht war, setzte er erneut zu einer Landung an. Dabei stürzte er ab. Er starb am Unfallort, noch auf Westberliner Seite. In den vier Wochen zwischen Gueffroys und Freudenbergs Fluchtversuchen durchbrach eine Familie mit einem Pkw die Sperre vor der Ständigen Vertretung der BRD. Zwei Mitglieder des Chores von Radio DDR kehrten nach einem Gastspiel in Cardiff nicht in die DDR zurück, berichtete die »Morgenpost«. Der Generaldirektor der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meißen, Reinhard Fichte, siedelte in die Bundesrepublik über. Der Drang, die DDR zu verlassen, wurde bei vielen immer stärker. Artikel der Serie könnten manchen reizen, sich zu Wort zu melden, weil er in der Nähe der beschriebenen Orte wohnt oder wohnte, weil ihm diese oder jene eigene Episode wieder eingefallen ist. Meinungen und Hinweise sind willkommen. Wir werden sie in Leserbriefen veröffentlichen. Nächste Folge: Polenmarkt am Potsdamer Platz
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