Ein anderes Verständnis von Freiheit

Klaus Wagenbach und sein Verlag in der Geschichte der Bundesrepublik

Der Meinungsverlag muss für das Neue da sein«, zitiert Klaus Wagenbach den ins Exil vertriebenen Kurt Wolff. Denn auf dem Buchmarkt sonst werde »alles, was unter einer Auflagenerwartung von 6000 liegt, ... nicht mehr gedruckt. Dieses Gelände ist jedenfalls frei.«
»Frei« war in dieser Spätphase der Ära Adenauer eher ein Kampfbegriff in beiden deutschen Staaten: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund in der DDR stand in der Kritik des Senders Freies Berlin und die Freie Deutsche Jugend konnte an der Freien Universität Berlin nicht studieren. Immerhin hatte Hochhuths »Stellvertreter« an der Freien Volksbühne in West-Berlin für Furore gesorgt. Die Rückkehr der im Nationalsozialismus aufgestiegenen Elite in alte Funktionen war besonders von der Freien Demokratischen Partei unter dem Ritterkreuzträger Erich Mende gefördert worden.
Diesseits und jenseits der Mauer blühte Freiheit auf je eigene verlogene Weise. Die rechtswidrige Durchsuchung der Redaktionsräume des SPIEGELS wurde ebenso mit der Verteidigung der Freiheit begründet wie die Errichtung der Mauer mit der Verteidigung der sozialen Freiheitsrechte in der DDR. Wenn man nicht einen neuen Begriff suchen wollte, musste Freiheit einen neuen Inhalt bekommen.
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Zur Diskriminierung dieser Jugendlichen gehört ihre Unglaubwürdigmachung. Das betrifft nicht nur sie, auch ihre Eltern und Freunde. In der Klassengesellschaft ist Armut Schande, der Kriminalität benachbart. Arme sind unglaubwürdig. Also wird man sagen, was hier berichtet werde, das sei unglaubwürdig. Dabei wird vonseiten der Fachleute und Beamten mit dem Wahrheitsbegriff der Akten und Behördeneintragungen hantiert werden. 
In den Akten steht: sexuell haltlos, Herumtreiberei, Unzucht gegen Entgelt, Arbeitsplatzwechsel. Oder: Verkehrt mit Ausländern, trägt Miniröcke. Oder: Renitent, aufsässig, verlogen. In den Akten steht alles, was gegen die Mädchen spricht, jedenfalls in den Augen derer, die die Akten anlegen. 
Ulrike Meinhof, Aus: Bambule
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In dieser Situation gründete Klaus Wagenbach einen Verlag: »Ich möchte den jüngeren deutschen Autoren eine Alternative bieten«, erklärte er und versprach, stets gegenüber der Literatur Respekt zu bewahren. Er hatte Germanistik, Kunstgeschichte und Archäologie studiert und über Kafka promoviert. Dem Verlagswesen war er über eine Lehre bei Suhrkamp und bei S. Fischer verbunden, wo er ab 1959 als Lektor für deutsche Literatur arbeitete. Das liberale Ehepaar Bermann-Fischer ließ ihm freie Hand, er brachte Bücher von Christa Reinig, Johannes Bobrowski und Christoph Meckel heraus.
Im Frühjahr 1964 wurde er entlassen - der Verlag S. Fischer war an den Holtzbrinck-Konzern verkauft worden, denen passte der junge linke Mann nicht. »Wer libertäre Meinungen hat in unserem Land, der muss mit ein paar Kurven in der Biografie rechnen, und die führen mit einer gewissen Logik zu einem Punkt, von dem an man solche Meinungen nur noch auf eigenes Risiko vertreten kann.« So entstand der Verlag Klaus Wagenbach als linker Verlag auf eigenes Risiko - ein anderes Verständnis von Freiheit.
Mit einigen Quartheften in schwarzer Broschur begann der Verlag Klaus Wagenbach. Die »Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers« des 1963 verstorbenen, von den Nazis verjagten Kurt Wolff sind das Vermächtnis seines Vorbildes. »Onkel, Onkel« ein Vierakter von Günter Grass, Ingeborg Bachmanns »Ein Ort für Zufälle - Berliner Impressionen« werden in dieser Reihe vorgestellt. Zu einem Gründungsumtrunk kommen auch Stephan Hermlin und Paul Dessau von drüben, Sebastian Haffner und Professor Höllerer von hüben und Uwe Johnson von hüben und drüben zu Bier und Korn.
Die in einem solchen Kreis definierte Freiheit las sich anders als das, was sich hinter dem Abkürzungs-»F« in beiden deutschen Staaten versteckte: Im Verlag Klaus Wagenbach erhielten alle Autoren innerhalb einer Serie das gleiche Honorar und waren nicht mit Optionen gebunden. Die Autoren hatten Einfluss auf Typografie und Informationstexte. Die Bücher sollten billig sein. Die Leser sollten nicht nur durch Texte über die Bücher, sondern auch durch Auszüge aus den Büchern informiert werden. Das geschieht heute noch durch die »Zwiebel«, den jährlichen Almanach im Reclam-Format, in dem bis vor kurzem auch noch die Bilanzen des Verlages veröffentlicht wurden. Zuletzt wollte man die Zwiebel nicht zweifarbig drucken: das Jahresergebnis hätte in Rot dargestellt werden müssen, also fehlt es bis auf weiteres ...
Die Arbeit des Verlages sollte nicht dem Profit dienen, sondern den inhaltlichen Absichten folgen. Diesem Grundsatz musste eine »edle Idee« bald geopfert werden: Ursprünglich waren die Honorare höher als üblich, das war aber zu kostenträchtig.
Man erkennt: Gründung und Gründungsmythos des Verlages wiesen auf Entwicklungen, die heute mit der Jahreszahl 68 verbunden werden. In Wirklichkeit wurden die Weichen Jahre früher gestellt: der große Frankfurter Auschwitzprozess, die nicht abreißenden Skandale um alte Nazis auf hohen Posten in der Bundesrepublik, der beginnende Vietnam-Krieg hatten in einer jüngeren Generation eine Atmosphäre der Nachdenklichkeit, des kritischen Zweifels, des Protestes entstehen lassen. F. C. Delius, einer der ersten Autoren in Klaus Wagenbachs Quartheften, hat in seinem Roman »Amerikahaus« die Stimmung in West-Berlin getroffen.
Der erfolgreichste Autor dieser Quarthefte war Wolf Biermann mit seinem Band »Drahtharfe«. Nach dem Ausschluss des Autors aus der SED und dem gegen ihn verhängten Publikationsverbot wurden auch die jungen, hoffnungsvollen Beziehungen seines West-Verlages zur DDR auf Eis gelegt. Klaus Wagenbach durfte die Transitwege nicht mehr benutzen und musste - bis 1973 - West-Berlin immer per Flugzeug verlassen. Bitter war es für Klaus Wagenbach, wie Biermann nach seiner Ausbürgerung 1976 seinem Entdecker den Rücken kehrte.
Im Westen galt der Verlag Klaus Wagenbach als »kommunistischer Verlag«. Aimé Césaires Theaterstück über Patrice Lumumba, den - das ist heute gesicherte Erkenntnis - die CIA ermorden ließ, Erich Frieds Gedichtband »und Vietnam und« oder die »Dokumentar-Polemik« von F. C. Delius über einen Wirtschaftstag der CDU taten einiges für diesen Ruf. Freiheit hieß damals, in Ost und West gleichermaßen verschmäht zu sein!
Was das für die andere Komponente der Freiheit bedeutete, für das Arbeiten auf eigenes Risiko, haben Klaus Wagenbach und sein Verlag in den vergangenen vierzig Jahren immer wieder zu spüren bekommen. Während der wilden Jahre nach 1968 galt der Verlag Studenten und selbst ernannten Revolutionären als Institution, die man bedenkenlos ausbeuten konnte. Von der Branche wurde er dagegen als Konkurrent empfunden. Der Wettbewerb um Autoren und Marktanteile, der tägliche Kampf, die Kosten im Griff und das hehre Ziel im Auge zu behalten, erforderten Kompromisse. Ein Teil spaltete sich ab, der Rotbuch-Verlag wurde gegründet. Die meisten Autoren blieben bei Wagenbach, aber der Vorgang kostete Geld.
Damals spottete der »Vater des Wirtschaftswunders« Bundeskanzler Ludwig Erhard über junge deutsche Autoren, sie seien »ganz kleine Pinscher, die in dümmster Weise kläffen«. Aber Wagenbach blieb dabei: Unerhörtes kam zu Wort. Im Mai 68 erschien das erste Jahrbuch für Literatur »Tintenfisch«, das damals von Klaus Wagenbach und Michael Krüger, dem heutigen Hanser-Verleger herausgegeben wurde. Es war die Zeit, als in Bonn eine Große Koalition herrschte. Später wurde es Herbst in Deutschland. 1971 veröffentlichte der Verlag »Bambule«, ein Buch von Ulrike Meinhof über Fürsorgeerziehung, das nach ihrem Untertauchen sofort ein Ermittlungsverfahren gegen den Verleger auslöste. Später sprach er am Grab der Autorin heute noch gültige Worte vom damaligen Zustand der Bundesrepublik. Er hielt auch die Rede am Grabe seines italienischen Kollegen Giangiacomo Feltrinelli. Diese Verbindung steht für einen Schwerpunkt des Wagenbach-Verlages: die Vermittlung italienischer Literatur in Deutschland. Dem fundamentalistischen Vorwurf, er gehöre zur »Toscana-Fraktion« von schicken Linken, die es sich leisten könnten, Landhäuser in Italien zu besitzen, begegnet Klaus Wagenbach gern mit dem entwaffnenden Satz: »Ich bin sogar ihr Begründer!«

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Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Erich Fried
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Heute, vierzig Jahre nach der Gründung, wird der Verlag von Susanne Schüssler geleitet, die seit 1996 mit Klaus Wagenbach verheiratet ist. Sie ist auch Gesellschafterin, zusammen mit ihrem Mann und Nina Wagenbach, der tüchtigen Tochter aus der ersten Ehe mit Katia Wagenbach-Wolff, die in ihrer kleinen Friedenauer Presse bibliophile Kostbarkeiten zu erschwinglichen Preisen verlegt. »Warum so verlegen?«, so der Titel des soeben erschienenen WAT 487 (Wagenbachs Andere Taschenbücher, Reihennummer 487). Klaus Wagenbach hat dieses Buch mit dem Untertitel »Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft« herausgegeben. Es enthält am Schluss ein Verzeichnis aller im Verlag erschienenen Bücher von Héctor Abads »Kulinarisches Traktat für traurige Frauen« bis zu der Gedichtsammlung »Vogelbeerbaum« von Marina Zwetajewa. Dazwischen liegt viel Italienisches, viel Linkes, vor allem viel Literatur. In der hochformatigen roten Reihe SALTO finden sich Autoren wie Antonio Tabucchi und Raymond Queneau, im Quartbuch die beiden von Wagenbach für deutsche Leser entdeckten Michel Houllebecq und A. L. Kennedy und als WAT Dunja Barnes und Elsa Triolet. Ein wichtiger Wagenbach-Band war 1965 »Atlas«, eine Art »Heimatkunde« - von Königsberg bis Freiburg - und eine Momentaufnahme der sechziger Jahre. Es war auch, für viele Jahrzehnte, die letzte gesamtdeutsche Anthologie, die berühmte Autoren wie Anna Seghers, Johannes Bobrowski, Günter Grass, Peter Weiss, Franz Fühmann, Siegfried Lenz, Wolfgang Koeppen, Stephan Hermlin, Hans Werner Richter oder Günter Kunert vereinte. Jetzt gibt es zum Jubiläum eine bibliophile Neuausgabe. Besondere Beachtung fanden auch die Bände der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, die so renommierte Autoren wie Peter Burke oder Pierre Bourdieu, Alexandre Koyré oder Philippe Ariès unter das Verlagsdach holte. Im Jubiläumsjahr erfüllt sich Klaus Wagenbach einen ganz persönlichen Wunsch: in seinem Verlag erscheinen als deutsche Erstausgabe in neuer Übersetzung die Werke des großen Kunsthistorikers Giorgio Vasari (1511-1574).
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Wir möchten wie Trüffelschweine nach unerhörten Büchern und neuen Autoren suchen und sie wie fürsorgliche Mütter großpäppeln; wie gute Schullehrer wollen wir immer wieder an wichtige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erinnern; in politischen und theoretischen Büchern vertreten wir unsere Meinung laut und deutlich oder lassen auch politisch nicht korrekte Meinungen zu Wort kommen (Irrtümer eingeschossen). Wir fragen nach den Rahmenbedingungen für ein zukünftiges Zusammenleben und vergessen dabei nicht, einen Blick in die Geschichte, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte Europas zu werfen. Und wir möchten Platz haben für ganz und gar unmögliche Bücher, Raritäten ohne Ziel- und Warengruppe, und die Ideen dazu, wie wir sie trotzdem verkaufen können. 
Susanne Schüssler, Aus: Reizende Aussichten
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In den Verlagsräumen in der Emser Straße am Ludwigkirchplatz, in gehörigem Abstand zu Berlins und Deutschlands »Neuer Mitte«, herrscht immer noch Solidarität. Es gibt neben ganzen auch halbe und viertel Stellen, vor allem für Frauen mit kleinen Kindern. Wobei jede und jeder für den Verlag sein Ganzes gibt. Annette Wassermann, die die Presse leitet, betreut zugleich das französische Lektorat. Hier lebt keine Wohngemeinschaft, aber es wird zu Mittag gemeinsam gekocht - entgegen allen Klischees nicht etwa immer Spaghetti.
Im Jubiläumsprogramm finden sich Neuausgaben von Erich Frieds Liebesgedichten, von Ulrike Meinhofs »Die Würde des Menschen ist antastbar«, es gibt in Wagenbachs LeseOhren, der Hörbuchreihe des Verlages, »Das Leben meiner Mutter« von Doris Lessing und neben vielem anderen noch das Lesebuch »Warum so verlegen«, Texte über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, die der inzwischen 73-jährige Klaus Wagenbach herausgegeben hat und die für nur 5 Mark zu haben sind. Auch wird eine Ausstellung von Leipzig an durch wichtige Städte der Republik touren. Wir können also mit A. L. Kennedys gerade bei Wagenbach erschienenem Roman nur sagen »Also bin ich froh«!

Harald Loch, Jahrgang 1941, war Ende der 60er Jahre Vorsitzender des Liberalen Studentenbundes Deutschlands (LSD). Bis 1983 war er Rechtsanwalt in Berlin, u.a. Verteidiger in so genannten Terroristenprozessen, danach Dokumentarfilmer in der Dritten Welt, Buchhändler und Kulturjournalist.
Die Texte von Klaus Wagenbach, Erich Fried, Pier Paolo Pasolini und Susanne Schüssler stammen aus dem Band »Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft«, herausgeg...

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