Nun sind sie schon in unseren Gurkenbeeten

Walter Ruges autobiografische Reportagen liegen jetzt als Buch vor - in Paris

  • Claus Dobberke
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Der Potsdamer Kommunist Walter Ruge ist dieser Tage ein gefragter Gesprächspartner - in Paris. Der französische Verlag Nicolas Philippe hat unter dem Titel »Prisonnier No. 8403« Ruges - gleichermaßen aus Liebhaberei und Protest entstandene - autobiografische Reportagen ediert. Sie sind auf eine überraschende Resonanz in der französischen Öffentlichkeit gestoßen. Von Le Figaro bis lHumanité wird nun ein Buch besprochen, in dem ein deutsches Jahrhundertschicksal aufgeschrieben ist. Die französische Germanistin Anne-Marie Pailhès, die sich wissenschaftlich mit den Massenorganisationen der untergegangenen DDR beschäftigte, stieß vor drei Jahren bei den Recherchen zur Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft auf die Familie Ruge. Sie las Walters Lebens-Geschichten, übersetzte gemeinsam mit dem Autor die meisten ins Französische und fand einen Verlag. Die erste Auflage beträgt 3000 Exemplare. Die französischen Buchrücken der Belegexemplare nehmen sich seltsam aus unter Walter Ruges Büchern, die meistens kyrillische Schriftzeichen ausweisen; in Goldschnitt, Ganzleinen, Halbleinen oder Karton stehen Dostojewski, Gogol, Puschkin, Lermontow, Tschechow neben Gorki, Majakowski, Katajew und Wyssotzki. Russisch ist Walter Ruges zweite Muttersprache, seitdem er mit seinem jüngeren Bruder Wolfgang 1933 in die Sowjetunion emigrierte und dann, als 1934 aus dem deutschen Jungkommunisten und Emigranten der sowjetische Staatsbürger Walter Erwinowitsch Ruge geworden war. Mit seiner Frau Irina, die im letzten Jahr verstorben ist, hat er gern Russisch gesprochen. Irina sprach perfektes Deutsch; aber bei kleinen, persönlichen Gesprächen und bei Flüchen wechselte Walter automatisch ins Russische. Das große Land, das »Vaterland aller Werktätigen«, hat nicht nur sprachlich Spuren hinterlassen in seinem Leben. Vor allem zu Beginn der Emigration genießt Walter mit aller Kraft und Lust das Leben, vor allem das kulturelle, in der großen quirligen Metropole Moskau. Er besucht zur Weiterbildung die »Kommunistische Abenduniversität der Nationalen Minderheiten des Westens«, die unmittelbar dem Moskauer Komitee der KPdSU untersteht, absolviert eine Berufsausbildung, studiert, wird Röntgeningenieur. Voller Stolz trägt er an hohen Fest- und Feiertagen die samtene, tiefrote und goldbestickte Fahne des Instituts für Röntgenologie und Radiologie über den Roten Platz, vorbei an den Genossen J.W. Stalin, Ordshonikidse, Kirow und an den Bürgerkriegshelden Woroschilow und Budjonny, fast symbolhafte Figuren, die er aus den Namen seiner Pionierlager kennt und in Pionierliedern besungen hat. Er ist zu jung und zu verblendet vom Mythos des Arbeiterparadieses, wie er heute sagt, um zu erkennen, dass er ab 1936 praktisch auf einem Vulkan lebt. Einen ersten Riss bekommt die heile sowjetische Welt des deutschen Emigranten und Jungkommunisten 1939. Er schreibt später dazu »Die neue "Freundschaft" zwischen Hakenkreuz-Deutschland und der UdSSR erschütterte mich tief. Der Überfall der faschistischen Wehrmacht am 22. Juni 1941 lehrte mich zwar das Grausen, rückte aber mein persönliches Bild von der Welt wieder in vertraute Bahnen, Hitlerdeutschland war also doch "unser" Feind! - Vier Tage später wurde ich, wie Tausende vor mir, "geholt"...« Walters tief überzeugte kommunistische Gesinnung hindert das allmächtige NKWD nicht, sich seiner anzunehmen. Walter wird von der Arbeit weg verhaftet. Wegen »sowjetfeindlicher Propaganda«, »Spionagetätigkeit« (Walter, ein Technik-Freak, hatte Szenenfotos aus einem sowjetischen Fliegerfilm ausgeschnitten und gesammelt) und »Antisemitismus«. Obwohl Misshandlungen in der Lubjanka zu der Zeit kaum noch üblich waren (Geständnisse waren für die Sondergerichte unerheblich; ein Untersuchungsrichter versicherte Walter, dass ihm ohnehin zehn Jahre sicher seien), verdankt Ruge es nur seiner strotzenden Gesundheit, dass er 48-stündige Verhöre mit ihren albernen Beschuldigungen, darunter auch solche von bereits verurteilten KPD-Genossen, körperlich gut übersteht. Walter wird - auch ohne »Geständnis« - zu zehn Jahren Haft verurteilt, an die sich nach seiner Entlassung 25 Jahre Zwangsansiedlung (Verbannung) anschließen sollten. Es beginnt für ihn die hohe Schule des sowjetischen Strafvollzugs. Zunächst bleibt er unter seinesgleichen, unter »Konterrevolutionären und Spionen«, bei denen in der überfüllten Zelle sogar noch »Zirkel« funktionieren, nicht nur »Kochzirkel« wie in allen Gefängnissen der Welt. Nein, z.B. auch »Ratschläge für die spätere Brautwerbung« und für »Weinkenner« gibt es. Er begegnet dort ungewöhnlichen Menschen und Genossen, bekannten Namen und unbekannten, denen vorerst die Vertreibung der deutschen Invasoren wichtiger erscheint als ihr eigenes Schicksal. Walter erinnert sich ihrer und beschreibt mit wenigen Strichen und pointiert ihre Schicksale und Geschichten. Dann beschreibt er Begegnungen und Zusammenstöße mit den wahren Herren der Lager, den »urkis«, den Ganoven, die, »festgefügt verschmolzen sind wie in einer Loge, für die alle Macht feindselig ist, die nur ein Gesetz anerkennen, das Gesetz der "gesetzmäßigen" Mörder und Diebe.« Auch diese Episoden eröffnen dem Leser eine wenig bekannte Welt. Von den zehn Jahren seiner »Strafe« verbringt Walter Ruge fünf in einem riesigen Lager bei Omsk, das dem so genannten GULag (der Zentralverwaltung der sowjetischen Straflager) unterstellt ist. Vier Jahre davon verrichtet er schwere Erdarbeiten. Danach wird er durch einen reinen Zufall in seinem Beruf als Röntgeningenieur im Zentralen Häftlings-Lazarett des Gebietes Omsk eingesetzt. Hier bildet ihn ein - ebenfalls verurteilter - Chirurg in sechs Monaten zum Arzthelfer aus. Walter assistiert bei Operationen, amputiert Gliedmaßen, treibt ab, bringt Babys zur Welt, kann helfen. Er hat, so seltsam das unter jenen Umständen klingen mag, ein ausgefülltes Leben, das Gefühl, gebraucht zu werden. In diesem Milieu findet er auch wieder Freunde. Dann werden ihm seine neue Welt und seine geschätzte medizinische Qualifikation zum Verhängnis. Er kommt in einen Ferntransport ins vorerst Unbekannte. Später erweist sich, dass er auf der Stalinschen »Großbaustelle« Nr. 503, einer Eisenbahnlinie direkt auf dem nördlichen Polarkreis, gelandet ist. Er wird beauftragt, eine Häftlings-Poliklinik aufzubauen und erhält entsprechende Vollmachten, was ihn immer wieder vor schwere Entscheidungen stellt: Ist dieser Häftling arbeitsfähig oder nicht? Sein Kontingent für Arbeitsbefreiung ist sehr begrenzt. Skorbut breitet sich flächendeckend im Lager aus. Jeden Morgen ab fünf Uhr verabreicht Ruge bis 120 intravenöse Ascorbinsäure-Injektionen. Es gelingt, die Krankheit zu überwinden. »Dann stirbt, unfassbar für viele, der Generalissimus Josef Wissarionowitsch, der weise Führer und Vater aller Werktätigen. Der Eisenbahnbau wird eingestellt.« Das Tauwetter setzt ein. Ruge wird 1955, ein Jahr vor dem 20. Parteitag der KPdSU, rehabilitiert. Nach anfänglichem Zögern (»Hinter dem Ural war schwer zu beurteilen, ob sich die braune Brühe in einem Drittel Deutschlands tatsächlich geklärt hatte«), kehrt er 1958 nach Deutschland zurück, wird mit seiner Frau Irina in der DDR sesshaft. Mit Verlassen der Sowjetunion erlischt die sowjetische Staatsbürgerschaft; aus Walter Erwinowitsch Ruge wird wieder Walter Ruge. Er hatte innerlich keine Schwierigkeiten, gleichzeitig damit auch den Vatersnamen abzulegen. Erwin Ruge, sein Vater, hatte damals in Moskau den Sohn mit einer schriftlichen Denunziation schwer belastet. Er hatte, wie der orthodoxe Kommunist aus dem Lehrbuch, seine Treue zur Partei und dem Genossen Stalin über die Liebe zum Sohn gestellt. Und so bröckelte die Vater-Lichtgestalt der Kinder- und frühen Jugendjahre in die Bedeutungslosigkeit. Auch dies ein schmerzhafter Prozess. Walter hat seinen Vater später nie wiedergesehen. Allerdings spricht er bis heute dankbar von den Prägungen, die er dem Vater verdankt. Erwin Ruge, im 1. Weltkrieg Reserveoffizier des Kaisers, kehrt zunächst als Sozialist (USPD), mit Hass auf den Krieg und seine Verursacher aus den Schützengräben der Westfront in den brüchigen Frieden der Weimarer Republik zurück. »Er war die Bezugsperson. Er prägte uns Jungs. Ungeachtet dessen, dass gewisse Psychologen hier sofort den Ansatz für meine spätere Parteidisziplin und Hörigkeit gegenüber der Diktatur des Proletariats entdecken werden - unsere Kindheit war glücklich«, schreibt Ruge. Zu diesen Prägungen gehörte die Liebe zur Natur, die Liebe zu Kunst und Literatur, die Begeisterung für Abenteuer und Entdeckungsreisen, ein ausgeprägter Leistungswille und ein Hang zum Kräftemessen; Eigenschaften, die dem Sträfling Walter halfen zu überleben und die für den heute 88-jährigen aktiven Radsportler immer noch gültig sind (Fritjof Nansen, der Polarforscher, ist für Walter bis heute Leitbild. Nansen bereiste den Jenisseij von der Mündung bis Krasnojarsk. 30 Jahre später bewegte sich Walter Ruge in einem Laderaum auf dem gleichen Fluss in entgegengesetzten Richtung). In der DDR arbeitet Walter Ruge in der Fotoabteilung des DEFA-Spielfilmstudios. Seine Erfahrungen hier grenzen bisweilen ans Groteske. Er stieß auf Parteifunktionäre, die in der einen Tasche die Parteimeinung hatten und in der anderen ihre Privatauffassung, und je nach Bedarf griffen sie bei privatem oder öffentlichem Auftreten in die eine oder andere Tasche. Auf Grund seiner etwas nebulösen sowjetischen Vergangenheit genießt er eine Art Narrenfreiheit. Als allerdings 1980 die Historikerin Dr. Gertraude Teschner im NEUEN DEUTSCHLAND den »ungeheuerlichen Versuch einer Reinwaschung des Genossen Stalin« unternimmt, schreibt Walter ein langes Pamphlet an die Redaktion, in dem er mit Stalins roter Inquisition und ihrem unermesslichen Schaden für das Land und den Sozialismus abrechnet. (»Ich kenne die Sowjetunion nicht nur aus der Sicht eines komfortablen Touristenbusses, sondern auch aus der Sicht von Viehwagen, auf denen mit großen Lettern geschrieben stand: FEINDE DES VOLKES«). ND schickt ihm damals einen Redakteur ins Haus, der den Artikel zurückbringen will. Ruge lehnt ab: »Hebt ihn auf; vielleicht seid ihr in 50 Jahren klüger.« Ruge lebt in der DDR mit dem »Zerrbild seiner eigenen Weltanschauung«, wie er das heute nennt. Diese selbstkritische Erkenntnis hindert ihn allerdings nicht, die arrogante westliche Art und Weise, mit der alle gesellschaftlichen Erfahrungen dieses untergegangenen Staates, ebenso wie die Biografien seiner Menschen, zu historischer Makulatur erklärt werden, scharf zu verurteilen. Walter schreibt und denkt in Geschichten. Aus dem Detail entwickeln sich die Zusammenhänge, das Vorher und das Nachher. Aus den Menschenschicksalen dieser Erlebnissplitter wird ein tiefer Humanismus erlebbar, eine Überlebensstrategie, die in der Verteidigung der Menschenwürde gegen die Unmenschlichkeit der Verhältnisse bestand. Wenn politische Gefangene, Akademiker beispielsweise, auf engstem Raum zusammengepfercht, Streitgespräche über die Syntax der russischen Sprache führen, wenn sich daraus ein Zirkel für Russische Sprache entwickelt, so sollte man das nicht belächeln. Draußen patrouillieren Wachen mit schussbereiter Waffe, und drinnen sind Verse von Puschkin und Nekrassow Unterrichtsgegenstand. Ein heute kaum vorstellbarer Gegensatz, mit dem Menschen über sich selbst hinauswuchsen. Es wird aus den Geschichten und Schicksalen von Menschen, die Ruge erzählt, für mich ein Stück jenes »russischen Geheimnisses« verständlich, das dieses Riesenreich, sei es als Heilsmythos oder als Folterhölle, stets begleitet hat. So etwa, wenn Walter die Geschichte von Kapitän Dewjatych erzählt, der sich wie ein Kind freut, als sein Todesurteil in zehn Jahre (!) Lager umgewandelt wird und er in die überfüllte Zelle von Walter Ruge »entlassen« wird. »Er erscheint wie neu geboren, wie jemand, der das Glück hat, sein Leben nun erst richtig von vorne zu beginnen, und gleichzeitig das ungestüme Bedürfnis hatte, gleich einem Wasserfall, aus jenem Leben, jenem Leben vor dem Tod, Vergessenes, zu wenig Beachtetes unentwegt zu erzählen. Er musste wohl drei Monate in diesem Schwebezustand zwischen Leben und Tod gewesen sein, um dann an uns weitergereicht zu werden...Das Todesurteil verdankte der wackere Flussschiff-Kapitän, den man, auch als die Deutschen schon vor Moskau standen, immer wieder vom Militärdienst zurückstellte, einer bitteren Bemerkung über eine Bemerkung des Genossen Stalin (er pflegte die Reden des Genossen Stalin gründlich zu lesen). Der hatte gesagt: Die eroberungslüsternen Imperialisten mögen sich hüten, ihre Schweineschnauzen in unseren Sowjetgarten zu stecken! - Der Kapitän hatte im Kreis von Freunden vollendet: Und nun sind sie schon in unseren Gurkenbeeten! Diese Bemerkung wäre für den Guten beinahe tödlich geworden.« Ruge erzählt lakonisch und humorig Episoden aus dem Leben dieses Stalinschen Willkür-Opfers; es entsteht das liebevolle Bild eines Menschen - nicht das eines Widerstandskämpfers. Die Stalinschen Repressionen werden nicht an Gegnern, sie werden nicht an Feinden - sie werden an Menschen vollzogen. So, mit leichter Hand beschrieben, werden ihre Auswirkungen umso unmenschlicher. Schreiben ist für Ruge seit jeher ein Bedürfnis der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen gewesen. Er begann als Briefeschreiber. Schon der 14-Jährige hat seitenlange Liebesbriefe verfasst; später werden Briefe erste schriftliche Zeugnisse seines tiefen inneren Konflikts, seiner Verzweiflung, nach der Ausgliederung wieder eine Zukunft zu finden. Er schrieb diese Briefe vom nördlichen Polarkreis an die Mutter in Potsdam, die aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt war. Aus den Briefen entwickelten sich die jetzt in Frankreich veröffentlichten autobiografischen Reportagen. Beobachtungen, Details, Episoden, Figuren und ihr Verhalten in sehr schwierigen Situationen sind darin enthalten; Schlaglichter und Milieubeschreibungen, die einzeln keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, in denen aber in der Summe das Ganze sichtbar wird. Ruge schreibt ohne Bitterkeit und ohne didaktische Zielsetzung. Manchmal mit engagiertem Humor, manchmal als distanzierter Chronist. Das Buch findet den Bogen für ein Jahrhundert. Seine Sichtweise gewinnt den Fakten immer neue Seiten ab, tragische und komische, wesentliche und läppische; ihr Bezugspunkt hat sich »vom undifferenziert-dogmatischen Klassenstandpunkt« zum Glauben an den Menschen gewandelt. Ein westdeutscher Journalist, der einige von Walters Lebens-Geschichten gelesen hatte, fragte neulich telefonisch aus Moskau erstaunt und amüsiert: »Und nach all dem stehen Sie immer noch links?!« Walter gab trocken zurück: »Kennen Sie eine vernünftige Alternative, um die Dinge dieser Welt zu ordnen, Verehrtester?« Es wäre dem deutschen Publikum zu gönnen, dass sich ein deutscher Ve...

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