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Von BEATE GROSS

  • Lesedauer: 3 Min.

mus in einen säkularisierten Einheitswahn zu überführen: Dem einen Gott, der in der Geschichte die angebliche Einheit der Muslime begründet hat, wurde das Bild eines charismatischen Führers hinzugefügt, der eine Einheitspartei leitete. Diese wiederum vertrat eine zumeist brutale Politik der Gleichmacherei historisch gewachsener sprachlicher, ethnischer und kultureller Unterschiede, an denen der islamische Raum sehr reich ist. Hier setzte sich nicht die Tradition der Toleranz durch, sondern vielmehr das vom Ostblock übernommene Muster des Einparteiensystems - wenn auch islamisch verbrämt. Die Regime waren im Kern antide-

mokratisch und versuchten, sich der Bevölkerung gegenüber durch das Versprechen umfassender Modernisierungen zu legitimieren.

Von der Modernisierung profitierten jedoch viel zu kleine Bevölkerungsschichten. Für die meisten Menschen ergab sich entweder Stagnation oder sogar Verschlechterung der Lebensbedingungen, weil die traditionellen Formen der Produktion und des Handels fast überall zerstört, aber durch zu wenig Neues ersetzt wurden.

Diese Probleme sind teils durch unsensible sozialistische Planwirtschaften, teils durch die Unfairness des kapitalitischen Weltmarktes verursacht.

Die von Nasser errichteten ägyptischen Staatsbetriebe wurden von Sadat schon vor 15 Jahren aufgegeben. Die von Algeriens Boumediene geförderte Hochindustrialisierung erreichte nur 30 Prozent der in Europa üblichen Rentabilität und steht heute vor dem Kollaps. In beiden Ländern hat die Industrialisierung auch in der Phase der großen Hoffnungen niemals die Arbeitslosigkeit beseitigt. Nur der soziale Zustand der auf kleinkapitalistische Entwicklung und Weltmarktintegration setzenden Länder wie Tunesien und Marokko ist heute etwas besser: Die hier nicht zerstörte Landwirtschaft ernährt die Bevölkerung, während Algerien und Ägypten zwei Drittel der benötigten Nahrungsmittel einführen müssen.

Dennoch herrscht in Nordafrika und Nahost eine in Europa unvorstellbare Arbeitslosigkeit, von der vor allem die Jugend betroffen ist. Und die ist ansprechbar durch Islamismus, der hier als „Wiedergeburt“, im Westen aber als radikale Gefährdung der Weltordnung wahrgenommen wird.

Die konkrete Form der islamistischen Massenbewegungen wurde von den konservativsten Kräften modelliert. Es sind die nie ganz entmachteten alten Feudalkräfte, die ihre Feindschaft gegenüber Modernisierung mittels der Enttäuschung der Modernisierungsopfer wieder politikfähig gemacht haben. In Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten besitzen sie potente Finanziers. Über den Afghanistankrieg sind aber auch enorme Gelder des Westens in die internationalen Organisationen des militanten Islam geflossen. Mit den Moscheen, die sowohl in der sunnitischen als auch in der schiitischen Tradition stets erhebliche Freiräume gegenüber der herrschenden Macht wahren.kqnnten, besitzt der Islamismus ein dichtes logistisches Propagandanetz.

Die islamistischen Programme sind kaum schriftlich ausformuliert, sondern werden vor allem in den Freitagspredigten verkündet. Sie stellen eine geschickte Verquickung der Staatsverdrossenheit der Bürger mit der prinzipiellen Staatsfeindlichkeit der Konservativen dar- Auf Grund der stets labilen wirtschaftlichen

Lage hat sich der Staat nirgendwo dauerhaft als Garant sozialer Minima erlebbar gemacht. Die Menschen können bislang nur auf familiäre Solidaritäten bauen. Hierin liegt eine Ursache für das anwachsende Prestige der überkommenen patriarchalen und autoritären Familienstrukturen, die gerade von islamistischen Jugendbewegungen nicht in Frage gestellt werden. Männliche Autorität und der weitgehende Ausschluß der Frauen vom Arbeitsmarkt erscheinen in den Augen vieler Jugendlicher heute als einzig mögliche Form des Überlebens.

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