Als das Blau geboren wurde
Zum 65. Geburtstag von Gerda Lepke
Wer alles schrie vor Freude, als das Blau geboren wurde? - Sie, Neruda, stellen merkwürdige Fragen. Geboren? War es nicht schon immer da?« - Ein fiktiver Wortwechsel zwischen Christa Wolf und Pablo Neruda, gelesen von ihr zur Eröffnung der Ausstellung »Assoziationen in Blau« vor gut einem Jahr in der Berliner Galerie Forum Amalienpark. Das Gedicht Nerudas war der Schriftstellerin Motor fürs Aufsuchen auch tausenderlei Redensarten und Metaphern zum Wort Blau, die sie zu einem spielerischen Text flocht für ein Buch, das inzwischen bei Realis erschien. Nicht als Illustrationen, sondern als bildkünstlerisches Pendant von Christa und Gerhard Wolf ausgesucht: Arbeiten von Gerda Lepke, in denen die Farbe Blau dominiert.
In dieser Ausstellung war es also das Blau, das schon immer da war, das von Gerda Lepke neu geboren wurde. Ebenso gut hätte es das Grün sein können oder das Gelb, die auf den Blättern der Künstlerin ihre Metamorphose feiern. Da sind sie Gesprengsel, Tupfen, Flecke, dicht an dicht oder transparent gesetzt oder mit Pinselschlägen auf den Malgrund geschleudert und gespritzt, da sind Linien schwungvoll gebündelt, sich kreuzend, überlagernd, lose Geflechte, denen kühner Rhythmus, erregtes Tempo, nervöse Beweglichkeit die einzig lebbare Daseinsform sind. Ebene um Ebene aufgetragen - nicht Schicht um Schicht, das wäre die weniger zutreffende Beschreibung, denn eine dem Wort Schicht beiwohnende Massivität und Schwere gibt es in Lepkes Bildern nicht.
Was aus ihnen hervorscheint oder in ihnen verschwindet, sind mal aufrechte Ganzfiguren, mal Figurengruppen, mal nur - im Porträt - der Kopf. Oder Themen aus der Natur: Landschaft, Baum, Ast, Wiese, Wasser, Wolken, Himmel - Abstraktionen, die eine Verwandtschaft zum Impressionismus erkennen lassen. Diese begrenzte Motivwelt und der Zugriff auf die Gegenstände in immer ähnlichen Perspektiven sind es, die zur Unverwechselbarkeit des Stils von Gerda Lepke beitragen.
Dabei drückt sich auch ein ganz besonderes Temperament, eine Besonderheit des Schaffensprozesses von Gerda Lepke aus: hochkonzentrierte Achtsamkeit, rastlose Offenheit gegenüber dem sie umgebenden, hellwache Teilnahme am Sichtbaren und Einsehbaren als alltäglicher Körper- und Geistestonus schlagen plötzlich um in Explosionen, in denen sich das Aufgenommene in das Eigene verwandelt. Ihre Hand wird wie von einem Wirbelwind geführt, und Gewissheiten und Ahnungen stieben durcheinander: Regengüssen ist Geduld nicht gegeben.
Farbe, Raum, Form, Licht sind die Konstituanten in Malerei, Zeichnung, Aquarell und verschiedenen grafischen Techniken. Und in allem ist ein Schweben und Jagen, ein Fliegen, Flirren, Flattern. Das Gemäßigte, das Laue, das Flache, das Sich-Fügen - einem Lepke-Lexikon fehlten solche Vokabeln. In diesem Buch stünden stattdessen die Worte: Drängen, Unruhe, Spontanität, Impulsivität, Resolutheit, Leidenschaft. Und ganz oben an: Empfinden.
Empfindung, sagt die Künstlerin, sie ist der Inhalt ihrer Werke. Liest der Betrachter diese temporeichen Notenschriften des Empfundenen, durchbrausen ihn Ströme und Flüsse des Schönen, die keine Andacht, kein Innehalten, keinen Stillstand kennen. Wann immer ich vor einem Gemälde Gerda Lepkes stehe oder eins der edlen Blätter in den Händen halte, erzeugt es in seiner Bewegtheit und Tiefe ein Gefühl der Freiheit, da werden Horizonte weiter, und atemlos, wie ich bin, wie sie mich gemacht hat, werde ich mitgenommen in geöffnete Räume. Und ich weiß auf einmal, dass gar nicht mehr so wichtig ist, ob ein Bild an seinen Rändern geschlossen ist oder noch offen, sondern dass sich das Vibrieren jederzeit fort...
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