Völkerrecht lässt keine militärischen Vergeltungsschläge gegen Staaten zu
NATO-Vertrag begründet keine automatische Pflicht zu Beteiligung an bewaffneten Maßnahmen
Der USA-Senat hat Präsident Bush ermächtigt, »alle erforderlichen und angemessenen Kräfte gegen Länder, Organisationen und Personen einzusetzen, die nach seiner Entscheidung die terroristischen Angriffe geplant, autorisiert oder unterstützt haben«. Offensichtlich bereiten die USA militärische Schläge vor. Sie berufen sich auf das Recht auf Selbstverteidigung. Sie erwarten die Unterstützung ihrer NATO-Verbündeten und anderer Staaten. Der Nordatlantikrat hat beschlossen, dass der Bündnisfall nach Artikel5 des Washingtoner Vertrags vorliegt, »falls ermittelt wird, dass dieser Angriff von außerhalb der Vereinigten Staaten gesteuert wurde«. Verantwortliche deutsche Politiker reagieren zwiespältig bis zustimmend auf die amerikanischen Absichten. Im Grunde wissen alle, dass militärische Gegenschläge zu einem weltweiten Inferno führen können.
Bei allem Entsetzen, bei aller Trauer und Wut, ist auch zu bedenken, was das geltende Völkerrecht über mögliche Reaktionen auf die barbarische Tat aussagt. Denn dieses Recht ist Maßstab für die Politik der Staaten, legt Spielräume, aber auch Grenzen für ihr Handeln fest. Zu befragen ist in erster Linie die UN-Charta, denn sie ist das Grundgesetz der internationalen Beziehungen. Die Charta statuiert in Artikel1 als erstes Ziel der UN und oberste Pflicht aller Staaten, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren«.
Artikel 51 der Charta bestätigt jedem Staat »im Falle eines bewaffneten Angriffs« das »naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung«. Dieses Recht ist nur auf dem Hintergrund des strikten Verbots der Anwendung militärischer Gewalt gegen andere Staaten zu verstehen. Es ist eine Ausnahme von diesem Verbot und deshalb restriktiv zu handhaben. Vorausgesetzt ist, dass ein Staat, ein Völkerrechtssubjekt den bewaffneten Angriff direkt begangen hat oder indirekt an ihm beteiligt ist.
Nach der von der UN-Generalversammlung einstimmig angenommenen Aggressionsdefinition und nach dem Nikaragua-Urteil des Internationalen Gerichtshofes liegt ein bewaffneter Angriff nicht erst dann vor, wenn ein Staat selbst Waffengewalt gegen einen anderen Staat anwendet, sondern auch schon dann, wenn dieser Staat »maßgeblich« in die Anwendung von Waffengewalt durch terroristische Gruppen »verwickelt« ist, wenn ihm die terroristischen Verbrechen zugeordnet werden können. In diesem Fall haben diese Verbrechen eine neue juristische Qualität. Sie werden zum Staatsterrorismus als einer Form von Aggression.
Ob ein solcher Fall vorliegt, ist offen. Wenn ein solcher Fall nicht nachgewiesen wird, bleiben die Terrorakte natürlich internationale Verbrechen der schwersten Art, die nach innerstaatlichem Recht und durch internationale Zusammenarbeit der Staaten mit nichtmilitärischen Mitteln verfolgt und bestraft werden müssen. Es handelt sich dann aber nicht um einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikels 51 UN-Charta. Folglich liegt dann auch kein Bündnisfall nach Artikel5 des NATO-Vertrags vor, denn dieser Bündnisfall setzt den bewaffneten Angriff eines Staates voraus.
Aber auch wenn ein bewaffneter Angriff eines Staates auf die USA vorläge, erlaubt das Recht auf Selbstverteidigung nur die unmittelbare militärische Abwehr des Angriffs. In dem renommierten Handbuch des Völkerrechts von Rüdiger Wolfrum heißt es: »Vergeltungs- oder Bestrafungsaktionen lassen sich daher nicht unter Rückgriff auf das Selbstverteidigungsrecht rechtfertigen.« Man mag einwenden, dass eine unmittelbare Abwehr im gegebenen Fall gar nicht möglich war. Man muss darüber nachdenken, wie ein solcher, bisher nicht da gewesener Fall völkerrechtlich eindeutig geregelt werden kann, welche Maßnahmen in diesem Fall im Rahmen der Selbstverteidigung zulässig sind. Die bisher noch nicht erlebte Ungeheuerlichkeit der terroristischen Akte ändert aber nichts daran, dass das Völkerrecht keine militärischen Vergeltungsschläge gegen andere Staaten zulässt. Sie würden das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und, da sie zwangsläufig auch die Zivilbevölkerung treffen würden, die Regeln des humanitären Kriegsrechts verletzen. Vergeltung und Rache sind keine Selbstverteidigung.
Nur im nachgewiesenen Fall eines bewaffneten Angriffs eines anderen Staates auf die USA wäre der Bündnisfall gegeben. Dieser Angriff wäre nach Artikel5 NATO-Vertrag »als ein Angriff gegen alle Parteien« anzusehen. Das zöge die Verpflichtung der anderen NATO-Mitglieder nach sich, den USA Beistand zu leisten, »indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten«. Aus den Formulierungen geht hervor, dass eine automatisch eintretende Pflicht der Bündnispartner zur Beteiligung an bewaffneten Maßnahmen nicht besteht. Jeder NATO-Staat könnte selbstständig darüber befinden und entscheiden, mit welchen Maßnahmen er den USA beistehen will. Die Erklärung des Nordatlantikrats ist ein völkerrechtlich dubioser »Vorratsbeschluss«, der noch dazu unzulässigerweise den Fall jeder beliebigen »Steuerung von außerhalb«, also auch den einer nichtstaatlichen Steuerung, erfasst.
Die Reaktion auf die terroristischen Akte muss eine Angelegenheit des UN-Sicherheitsrates werden. Der Rat hat in seiner Resolution vom letzten Freitag zurecht einstimmig festgestellt, dass diese Akte eine »Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« darstellen. Er hat »die internationale Gemeinschaft« aufgefordert, »ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um Terroranschläge zu verhindern und zu unterdrücken«, sich bereit erklärt, »alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge vom 11. September zu reagieren« und beschlossen, »sich weiter mit der Angelegenheit zu befassen«. Zu militärischen Sanktionen hat er niemanden ermächtigt.
Der Sicherheitsrat trägt nach der Charta die Hauptverantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Er darf die Reaktion auf die Terrorakte nicht dem Ermessen der USA und der NATO überlassen. Gerade weil es sich um einen Angriff auf die menschliche Zivilisation handelt, muss die gesamte Staatengemeinschaft in Gestalt der Vereinten Nationen mitentscheiden. Zur Weltgemeinschaft der Staaten gehö...
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