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  • Kultur
  • Heiner Müllers „Zement“ - inszeniert von Thomas Heise und aufgeführt in einer Fabrikhalle des Berliner KWO: Das Stück wirkte wie neu gelesen

„Es gibt heute wieder mehr Wölfe in Rußland als Revolutionäre“

  • Lesedauer: 4 Min.

Als der Beifall Zuschauer und Theaterleute vereinte, schauderte anerkennend eine Dame (West) neben mir: „Wie eine Verschwörung verfolgter Christen in den Katakomben Roms.“ Ein bekannter Herr (Ost), Erbauer-Chef der Stalinallee, schwärmte „großartig, sympathisch, wie zu Piscators Zeiten“. Während der Vorstellung mußten sie sich, wie andere auch, in Decken hüllen, denn es war saukalt in dieser Fabrikhalle des KWO, wo nichts mehr geht außer Theater. Die Riesenmaschinen als Bühnenattrappe, eine Handvoll Verschwörer spielen hier Heiner Müllers „Zement“. Nach dem Krieg war das Buch Fjodor Gladkows gleichen Namens für manche der jüngeren Generation ein literarisches Schlüsselerlebnis. Russische Revolution, ein Land in Agonie, weißer und roter Terror, opfervoller Aufbau gegen Bourgeoisie und eine übermächtige Bürokratie - das war mehr als Borcherts „Draußen vor der Tür“. Und heute? Theater, das noch Fragen an die Verhältnisse in der Welt stellt, findet überwiegend nur dort statt, wo diese Fragen elementar aus

den Verhältnisseh kamen: in den Fabriken. Aber heute stehen sie still.

Die Verschwörer in dieser Fabrik haben einen Namen: Berliner Ensemble. Oder richtiger: Eine junge linke Fraktion davon, denn am Schiffbauerdamm wird ja nun doch die mit diesem Namen verbundene Programmatik kunstvoll aufgeschäumt. Aber immerhin erhielten die Verschwörer aus der großväterlichen (BE-)Kasse 80 000 Mark. Das ist viel zu wenig für ein solches Projekt, denn über die Hälfte der Darsteller (und die anderen Mitarbeiter) sind arbeitslos und spielen ohne Gage. Einige Schauspieler sind noch am Stammhaus engagiert - eine hochmotivierte Truppe, wie sich zeigte. Ihr Anführer ist Thomas Heise, Regiemitarbeiter von Fritz Marquardt am Schiffbauerdamm-Theater, Spezialist für dramatischen Spreng-Stoff, sehr zu empfehlen. Er enthusiasmierte über den Sommer nicht nur die große Arbeitskolonne der Beteiligten, sondern offensichtlich auch Banken, Ex-VE-Betriebe, Schnapsbuden und andere Sponsoren. „Kunst

kommt nicht vom Herumsitzen“, hat er einmal gesagt.

Der Riesenraum der Halle sperrt sich und ist zugleich wie geschaffen für dieses Stück. Antike Dimension und Intimität, die das Stück brauchen, hi-

storisches Schlachtfeld und individuelles Schicksal reiben sich auf den Spieldistanzen von 20, 40 Metern. Auf Laufstegen, die sich kreuzen, wird agiert. Da erfolgt Zurufen des Textes anstelle von Gestaltung, die Darsteller sind Sinngeber von

Dichtung und erstmals keine Figuren. Dann „vermenschlicht“ sich die Szene, Rede wird zum Spiel, ohne Preisgabe seines überhöhten, demonstrativen Stils. Beeindruckende Arrangements, großräumige theatralische Lösungen, exzel-

lente Sprechkunst. Satirisches Abfackeln der Apparatschiks bricht sich unvermittelt in den tragischen Verwicklungen derer, die die Welt verändern wollen.

Herausragende Leistungen von Hermahn Beyer (Kleist), Christian Suhr (Badjin), Michaela Schmidt (Dascha), Thomas Wendrich (Gleb), Klaus Hecke (Borschtschi), Axel Werner (Offizier), Heinrich Buttchereit (Sawtschuk), Stefan Kolosko (Iwagin), Simone Frost (Polja) und in vielen Szenen und Rollen Lusako Karonga, Valeska Hegewald, Ruth Glöss, Ralf Grawe, Ronny Marzillier, Klaus Hecke, Barbara Staneck, Hans Fleischmann, Conny Herrford, Frank Zeutschel, Norbert Grandl.

„Die Revolution. Was ist das? Und was ist ein Mensch?“ fragt Thomas Heise. Seine Entscheidung jetzt für Müllers „Zement“ sei eine Entscheidung für ein „Theater als Laboratorium sozialer Phantasie“. Das Stück Müllers erschien mir, gegenüber der Aufführung 1973 im Berliner Ensemble (Regie Ruth Berghaus), wie neu gelesen: Radikale Enthüllung der

Parteibürokratie als Tod der Revolution und von Initiativen der Volksmassen. Zement nicht nur als Material zum Aufbau einer neuen Welt, sondern zu ihrer Versteinerung, also Abschaffung. Stalin als Zukunft des Sozialismus?

Das ist erschreckend deutlich und wie seziert herausgearbeitet, doch kippt hier kritische Analyse nie um in Abrechnung und oberflächliche Denunzierung einer großen historischen Alternative. Dafür stehen Figuren wie Badjin, Sascha und Gleb, in denen die Spanne von Anspruch und tragischem Verlauf durch die Darsteller in faszinierender Weise verkörpert ist. Und der Übergang der Leninschen Wirtschaftspolitik zur NÖP, der „Nutzung“ des Kapitalismus, erweckt zudem gegenwärtige Erfahrungen: „Es gibt heute wieder mehr Wölfe in Rußland als Revolutionäre“, heißt es sinngemäß. Revolution als Aufbruch, als Prozeß von Scheitern, Lernen und Neubeginn ein solches weitdimensioniertes politisches Thema ist heute selten. Ansehen.

KLAUS PFÜTZNER

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