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Von einem Brand nichts gesehen

Angeklagte im Solingen-Prozeß mit widersprüchlichen Aussagen Von ULRICHSANDER

  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist der 45. Verhandlungstag, und die Beweislage ist noch immer so wie bei Beginn des Solingen-Prozesses in Düsseldorf. Damals hatte der jugendliche Angeklagte Christian Reher sein letztes Geständnis aus den Voruntersuchungen bekräftigt, nach dem er allein in der Nacht des 29 Mai 1993 das Feuer in der Unteren Wernerstraße in Solingen gelegt hat, bei dem fünf türkische Frauen und Mädchen qualvoll starben. Der einzige nach dem Erwachsenenstrafrecht abzuurteilende Angeklagte, Markus Gartmann, hatte hingegen gestanden - Senatsvorsitzender Wolfgang Steffen nennt es „bezichtigt sich“ -, den Brand mit den drei Mitangeklagten gelegt zu haben. Felix Köhnen, der Jüngste, und Christian Buchholz hingegen streiten ab, dabeigewesen zu sein.

Nun sagen zwei Zeugen aus, die unterschiedlicher kaum sein können, die aber eines gemeinsam haben: Die Richter und viele Anwesende im großen Saal der Polizeischule an der Tannenstraße in Düsseldorf, wo der Senat des Oberlandesgerichts tagt, glauben ihnen nicht alles. Da ist Sascha, der Pflegesohn aus dem Elternhaus von Felix, dem Arztsohn. Sascha erinnert sich an nichts so richtig, kann meist nur sagen, es sei doch lange her Aber eins weiß er, und das sei wichtig: Er habe Felix und Marcus in der Brandnacht um 3 Uhr in der Solinger Innenstadt getroffen, sie hätten nichts Auffälliges an sich gehabt, seien ganz ruhig gewe-

sen, hätten geraucht und Bier getrunken. Von einem Brand konnte man nichts riechen und sehen. Er traue Felix so etwas nicht zu. Der sei nach dem Möllner Attentat ganz von den rechten Sprüchen weg gewesen. Zweimal sagt Sascha: „Wer Ausländer als Freunde hat, kann nicht rechts sein.“ Felix hatte welche.

Felix hat auch Eltern, die um ihren Sohn kämpfen. Sie halten ihn für unschuldig, umsorgen ihn im Gerichtssaal. Sascha gehört zur Familie, und irgendwie schwingt in den Fragen des Richters mit, daß er einen Zusammenhang vermutet zwischen den Aussagen von Sascha und den Wünschen der Familie von Dr. K. Dennoch wird Sascha vereidigt.

Während Sascha mit wenigen Fakten und vielen Gedächtnislücken aufwartet, hat Andy, Häftling in der Justizvollzugsanstalt, an Fakten keinen Mangel. Er bemüht sie gleich doppelt und dreifach, und die vorkommenden Personen bekommen laufend neue Namen. Da habe er zweimal im Knast Christian Reher getroffen, den er zunächst „Christian Noll“ nannte. Reher-Noll habe ihm gesagt, daß er die Sache in Solingen gemacht hat und nun nicht wisse, wo seine Mittäter sind. Doch als der ängstlich wirkende Andy einen der Angeklagten als Reher identifizieren soll, erkennt er ihn nicht. Christian Reher, der meist stumm grinsend auf der Anklagebank sitzt, teilt mit, Andy nicht zu kennen.

Die Beweislage ist am 45. Verhandlungstag so schwach

wie am 44. Die Anwälte von Felix, die Herren Greeven und Götz aus Düsseldorf, sagen, ihr Mandant habe bei der bisher errechneten Brandlegung um 1.20 Uhr nicht am Tatort gewesen sein können. Spätestens um 1.30 Uhr sei die Feuerwehr eingetroffen. Und als am 44. Verhandlungstag ein Feuerwehrmann bemerkt, er habe beim Eintreffen am Brandort den Eindruck gehabt, das Feuer brenne bereits 20 Minuten, da schreiben die Anwälte eifrig mit und rechnen von neuem.

Hinter ihnen lachen sich Buchholz und Felix zu, die überhaupt die ganze Veranstaltung recht unterhaltsam finden. Und die Nebenkläger von der Familie Gene beobachten entsetzt die Szene auf der Anklagebank.

Wer hat die türkische Großfamilie teilweise ausgelöscht? Waren es die Angeklagten? Oder waren es noch ganz andere? Welchen Einfluß hatte die rechte Kaderschmiede Hak-Pao-Schule auf die Angeklagten und auf weitere Jugendliche? Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte gesagt: „Die Morde von Solingen und Mölln sind nicht unzusammenhängende, vereinzelte Untaten, sondern sie entstammen einem rechtsextremistisch erzeugten Klima. Auch Einzeltäter kommen hier nicht aus dem Nichts.“ Doch vor Gericht sind nur Einzeltäter gefragt. Die das Klima machten, werden wohl nie vor Gericht kommen. Sie kamen ja nicht einmal an die Särge von Solingen.

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