Troll und troller
Umjubelte Premiere am Berliner Ensemble: Peer Gynt
Peter Zadek musste wie Bertolt Brecht Nazideutschland verlassen. Zadek war 1933 aber erst sieben Jahre alt. Als er 1958 nach (West)Deutschland zurückkam, war Brecht schon zwei Jahre tot, hinterließ in Berlin, Zadeks Geburtsstadt, das Berliner Ensemble. Dorthin ist Zadek zurückgekehrt, nachdem er 40 Jahre lang einen großen Bogen um Brecht gemacht hatte. Vor zehn Jahren noch ist seine freundliche Übernahme des Berliner Ensembles gescheitert. Jetzt ist er gescheiter, will nur noch inszenieren. So wie vor Jahresfrist »Mutter Courage«. Da war Krieg in Irak. Für Zadek sind die Amerikaner noch schlimmer als die Nazis. »Der Unterschied besteht darin, dass die Nazis vorhatten, Europa zu besiegen, die Amerikaner aber wollen die ganze Welt besiegen.« Seine Antwort: Brechts Stück. Das zeigte die Natur des Krieges so, wie er ist: als Geschäftemachen mit anderen Mitteln.
Am Gründonnerstag statt Politik Psychologie auf dem Premierenspielplan des BE. Peter Zadek hat Ibsens »Peer Gynt« in Szene gesetzt. 1867 in Italien (nicht im Exil, sondern während eines schönen Schreibstipendiums) in ganzen neun Monaten als großes Gedicht verfasst. Edvard Grieg schrieb die Musik. Norwegen pur. Für Regisseure Herausforderung, ein eigentlich unspielbares Stück zu bezwingen. Peter Stein an der Schaubühne, Claus Peymann in Wien. Und jetzt Peter Zadek in Berlin. Da dem mittelalten DDR-Menschen (in der Regel) der Vergleich nicht möglich ist (bis auf den Blick auf die Friedo-Solter-Inszenierung Anfang der Neunziger), konzentrieren wir uns auf die jüngste Ausgabe.
Aus einem langen, grüblerischen, vor Schauplätzen und Weltanschauung nur so wimmelnden Märchen, von einem Lügner, der auszog sich selber zu finden, macht Zadek eine amüsante Showveranstaltung. Hat er nicht auch mal eine Udo-Lindenberg-Revue inszeniert? Genau wie der nimmt Peer Gynt seinen Selbstfindungsauftrag nicht besonders ernst. Sein ganzes Leben ist eine einzige Lüge. Oder eine einzige Fantasie. Zadek lässt die Unterschiede verwischen. Lässt Peer Gynt fröhlich mit seiner eigenen Mutter, mit fremden Bräuten, mit tollen Trollen und barbusigen Haremsdamen, mit gesitteten Norwegern und sittenlosen Ausländern seinen Spaß haben. Der überträgt sich - Zadek sei Dank - auf die Zuschauer. Die nicht belehrt werden wollen über das, was sie sind, und es auch nicht werden. Für die Ibsens Frage »Mensch, sei du selbst« oder »Troll, sei dir selbst genug« gar nicht steht. »Man selbst sein heißt, sich selbst zu zerstören«, das geht schon mehr an die Substanz. Aber ehe man dazukommt, nachzudenken, hat Peer Gynt schon wieder ein neues Fass aufgemacht, eine neue Sau geritten, eine weitere Brust entblößt, ein neues Land bereist und ein neues Welträtsel gelöst.
Die Bühne des Berliner Ensembles ist zu Anfang ganz leer. Schwarzgetünchte Brandmauern - dahinter liegt nur noch die Außenwelt, die wirkliche. Das Hutzelweibchen Aase in seiner Kittelschürze, das sich um das Weiterkommen ihres missratenen Sohnes solche Sorgen macht, ist im Parkett kaum zu verstehen. Angela Winkler spielt mehr, als sie redet, guckt, streichelt, nestelt an ihrem (verlorenen) Sohn, der ihr eben noch erzählt hat, er sei auf einem Rentierbock über den Fjord gejagt und und ins Meer gestürzt. Und dieser Batz spielt mit ihr. Steht in seiner abgerissenen Hose und seinen runterhängenden Hosenträgern da, als wolle ihn gleich die Müllabfuhr holen. Heidi Kabel und ihr (Bühnen)Sohn bei einem Versuch des Ohnsorg-Theaters, einmal ernst zu sein. Doch damit ist es schnell vorbei. Mutter Aase wird auf dem Hausdach abgesetzt, und Peer schickt sich an, die ganze Welt zu erobern. Da wird es wieder BE. Und dessen Weltbühne (Karl Kneidl) bleibt sparsam ausgestattet. Erfährt ihren Höhepunkt in einem großen blauen Vorhang, auf dem ein kleines Schiff erst wackelt und qualmt, schließlich nach Verpupsen einer schwarzen Wolke versinkt. Gleich schaut Jim Knopf um die Ecke. Es ist aber wieder nur Peer Gynt.
Dieser Mann hat sich an Menschen vergangen. Man stiehlt keine Braut. Man lässt sich nicht mit schwellköpfigen Trollen ein, heiratet schon gar nicht ihre Königstochter. Man handelt nicht mit Sklaven. Man rettet nicht das eigene Leben, indem man andere dafür opfert auf der späten Heimkehr. Das alles und noch viel mehr macht dieser Peer Gynt sein Leben lang. Selbst wenn er zurückkommt zu der Solveig (Annett Renneberg), die bis zu diesem Tag auf ihren Peer in Norwegen gewartet hat, bleibt er der Träumer und Lügner Peer Gynt. »Peer, du lügst, du lügst«. Mit diesem Satz von Peers Mutter beginnt das Stück. »Schlaf und träume, lieber Junge mein.« Mit diesem Solveig-Satz endet es nach guten dreieinhalb Theater-Stunden. Da ist am Ende kein Unterschied mehr zwischen Frau und Mutter. Auch wenn sie beide verlassen und verraten wurden, nach ihrem Schoß, dem Urort der Geborgenheit, drängt es auch diesen Peer. »Meine Mutter, meine Frau, reinste der Frauen. Verbirg mich, bewahr mich bei dir«. Sätze von viel schönerer Wahrheit als der berühmte, viel zitierte Zwiebelmonolog von Peer Gynt, der von Uwe Bohm erfreulich unbelehrend vor einer heutig-hiesigen Wurstbude vorgetragen wurde. In diese Zwiebel biss er, wie in eine zuckersüße Mango. Regisseur Peter Zadek geht verblüffend unkritisch mit Gynt um. Lässt ihn fröhlich-geilhubernd durch sein Leben stolpern. Und Bohm geht ganz auf in dieser Traumrolle. Gerät nur zum Schluss etwas außer Atem. Aber was hat er nicht alles bewältigt und vergewaltigt. Mehr leiden lassen als durchlitten.
Alle anderen teilen sich in vielerlei Rollen (außer Mutter Aase-Winkler), sind mal Troll, mal Welle vor Norwegens Küste, mal Verrückte in Kairo, Haremsdame, Affe oder Stadtleute bei einer Art Osterspaziergang im letzten Akt. Den hat Botho Strauss gar für diese Inszenierung noch mal umgeschrieben. Nachdem er schon vor Jahren mit Peter Stein an der deutschen Fassung rumgetüftelt hatte, denn beiden reichte die Übersetzung von Christian Morgenstern nicht aus.
Hin- und hergerissen ist man von diesem Peer Gynt. Ist es ein Mensch, ein Schwein (wie seine Mutter sagt), oder ist er »ein Troll, ein Kapitalist, ein Lügner«? »Du bist ein so la la«, klärt ihn der Knopfgießer (Gerd David) auf, der Gynt auf seinen nicht enden wollenden letzten Kreuzwegen trifft, und ihm das Leben nehmen will, wenn Peer dann sein Haus bestellt hat und sein Sündenregister noch einmal hergebetet wurde. Ein Sensenmann mit einem Spielzeughelm und Radlerhosen - so unernst ist für Zadek der Tod.
»Was hab ich um den Slip gekämpft«. Ein Satz, den Anouschka Renzi im Fernsehen sagt. Vor der Premiere. Denn zum Stück gehört immer auch die öffentliche Aufmerksamkeit. Das Programmheft mit Probenfotos zeigt sie als Beduinenschönheit Anitra noch ganz nackt.
Langer langer Applaus nach der Premiere. Bravo für Bohm und Ensemble. Ein vereinzelt Buh für Zadek.Zu den Wiener Festwochen geht dieser Peer Gynt auf jeden Fall. Aber vielleicht ging es ja als Trost nach der Premierenfeier, pünktlich zu Ostern, für ihn wieder ab in seine zweite Heimat Lucca in der Toscana, unweit vom Ort, an dem Ibsen...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.