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  • Kultur
  • „Sunrise“ von MICHAEL KÖHLMEIER

Was heißt hier fair?

  • IRMTRAUD GUTSCHKE
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Grundeinfall soll geklaut sein von Richard O'Brian. Der hat in seinem Kultfilm „The Rocky Horror Picture Show“ (1975) freilich auch jede Menge fremder Ideen verwendet, um berühmte Monster-Filme zu veralbern - und die Ängste der „Normalgesellschaft“ vor allen „Abweichungen“ gleich mit. In dieser Erzählung aber ist nichts Monströses. Nicht mal der überraschende Schluß ist makaber, phantastisch allerdings schon. Denn eine wichtige Rolle im Buch spielt ein langer, dünner Mann, der mit einer Sichel wirft. Eines Tages früh um sieben auf dem Hollywood-Boulevard in Los Angeles hat er den Obdachlosen Leo Pomerantz treffen wollen, der erst zweiundfünfzig war, aber wie achtundsechzig aussah und sich gerade Vorgenommen hatte, seinen Lebenswandel zu ändern. Wie gut für den alten Leo in diesem Moment, daß die Sichel der kleinen Stripperin Rita Luna in die schöne Brust fuhr. Fälschlicherweise, wie gesagt, der Tod war nicht gut in Form an diesem Morgen. Rita Luna, noch nicht mal zwanzig, findet es ungerecht, einem Versehen zum Opfer zu fallen. Leo Pomerantz teilt ihre Meinung und ist doch dem Zufall dankbar.

Michael Köhlmeier baut nun daraus eine höchst raffinierte Geschichte. Was ist, fragt er sich, wenn der Tod nun tatsächlich fair sein wollte? Wenn er sich von den Klagen der klei-

Mwhael Köhlmeier- Sunrise. Erzählung. Haymon Verlag Innsbruck. 77 S.. geb., 28 DM.

nen Rita erweichen läßt, muß er dann den alten Leo nehmen? Der dünne Mann mit der Sichel hält die Zeit für eine Stunde an, damit Rita und Leo ihm begründen, warum sie unbedingt weiterleben wollen. Wie einfühlsam, wie anschaulich, ja spannend das erzählt ist! Was für eigentümliche, menschliche Geschichten!

Aber der eigentliche Witz ist

- und das erweist sich erst am Schluß, den wir hier nicht verraten wollen, - daß der Vorgang von einem Mann namens Richard berichtet wird. Der Ich j Erzähler steht mit Richard früh am borgen an irgendeiner Straße irgendwo in Europa

- zwei Tramper vertreiben sich die Zeit im Gespräch. Dabei ist der Ich-Erzähler ein „Schlaukopf, der in Richards Geschichte durchaus die letzten Fragen sucht und findet. Er ist ein guter Mensch, dem es schwer fällt, zwischen Rita und Leo zu entscheiden. Besser wärs ja doch, beide würden am Leben bleiben. Aber den Tod besiegen... Kann das Geordnete an diesem Punkt ethisch dem Zufall überlegen sein? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, der Ungerechtigkeit zu entrinnen? Das ganze Dilemma des Menschseins steckt in dieser kleinen Erzählung.

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