Unschuldige Gletscher

Lehrbücher behaupten, das Schmelzwasser der letzten Eiszeit hätte hier zu Lande alles Jod fortgespült. Alles Unsinn, versichern Geochemiker

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Vielerorts liest man, Deutschland sei Jodmangelgebiet, weil schmelzende Gletscher gegen Ende der jüngsten Eiszeit das für die Schilddrüse so wichtige Spurenelement aus unseren Böden ausgewaschen hätten. Und eben deshalb gäbe es so viele Menschen in Deutschland mit vergrößerten Schilddrüsen. Diese nämlich schwellen bei Jodmangel an, um mehr Jod aus dem Blut fischen zu können. Anders gesagt: Die Eiszeit ist schuld an Millionen Kröpfen. Wer Broschüren und Zeitungsartikel zu Schilddrüsen-Leiden durchblättert oder im Internet sucht, findet diese Behauptung hundertfach. »Unsere von der letzten Eiszeit vergletscherten Böden sind vom Schmelzwasser ausgelaugt«, sagte der Medizin-Professor Peter Scriba, Sprecher des Arbeitskreises Jodmangel und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer bei einem Expertenforum zur Schilddrüse im Februar 2002. »Alle deutschen Lebensmittel« seien deshalb »a priori jodarm«. Und der Mitteldeutsche Rundfunk versichert auf einer Ratgeber-Seite im Internet: »Das Spurenelement Jod, das mit der Schmelze nach der Eiszeit aus der Erde, besonders unserer Breitengrade, fast vollständig ausgewaschen wurde, befindet sich seitdem im Meer«. Die Liste solcher Äußerungen könnte man beliebig verlängern. Nur erklärt wird dieser folgenreiche Vorgang kurioserweise nirgends - wohl aus gutem Grund. Denn dann müsste man zum Beispiel erläutern, woher das Jod im Boden eigentlich gekommen ist, bevor es das Gletscherwasser ausgewaschen hat. Und warum erst das Schmelzwasser das leicht lösliche Jod aus dem Boden entfernt und ins Meer gespült haben soll, wo der Regen das doch genau so gut können müsste. Zudem müsste es eine Erklärung dafür geben, warum der Jodgehalt auch dort meist niedrig ist, wo es niemals Gletscher gab - also in Mittelgebirgen wie der Eifel, dem Taunus oder dem Spessart. Fragen wir also einen Experten - zum Beispiel Dr. Ulrich Siewers, einen Geochemiker bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover. Dass abschmelzende Gletscher gegen Ende der jüngsten Vereisung, also vor etwa 10000 bis 12000 Jahren, das Jod aus dem Boden ausgewaschen haben sollen, sei größtenteils »Quatsch«, sagt der Fachmann. Jod sei immer schon durch jede Art von Niederschlag aus den Böden entfernt worden. Wo Gletscher schmelzen, kann das auch durch tauendes Eis geschehen - sofern freilich die Sedimente unter den Eiskappen und -zungen überhaupt Jod enthalten. Und das gerade sei in Norddeutschland kaum der Fall gewesen, stammten die Gletscher samt ihrer Einschlüsse doch aus Skandinavien mit seinen »entstehungsbedingt jodarmen« Gesteinen. Jedenfalls habe der Jodmangel »wenig oder fast nicht« mit der letzten Vereisung in Deutschland zu tun. Wasserlösliches Jodid reichere sich in den Weltmeeren schon seit Ewigkeiten an, nämlich seit sich vor Hunderten Millionen Jahren auf der Erdkruste Ozeane gebildet haben, in die Flüsse und Winde jodhaltige Sedimente verfrachten. Obendrein trügen »permanente untermeerische Entgasungen der Erdkruste« Jod in die Ozeane ein. Das Meerwasser sei mit 60 Millionstel Gramm Jodid pro Liter »das größte Reservoir an Jod« der Erdkruste. Jod kommt natürlich auch an Land vor. Wo immer Meere sich zurückziehen oder verdunsten, hinterlassen sie jodhaltige Sedimente. Die höchsten Gehalte an Jod weisen laut Siewers Meeressedimente auf wie Tonschiefer oder aus einstigen Sandstränden entstandener Sandstein. In Vulkanischen Gesteinen hingegen, wie sie zum Beispiel in der Rhön auftreten, sei Jod rar. Als jodarm gelten in Deutschland außerdem Regionen wie der Harz und das Rheinische Schiefergebirge, aber auch Thüringer Wald und Erzgebirge, Schwarzwald, Bayerischer Wald und das Alpenvorland. Seit wenigen Jahrhunderten verschärfen zudem saure Niederschläge das Auswaschen des Jods aus den Böden. »Sie lösen das Jodid aus den Mineralen in den Böden und Gesteinen heraus«, sagt Siewers. Immerhin kehrt das für die Schilddrüse so unverzichtbare Element entlang der Küsten zum Teil wieder zurück - nämlich als jodidhaltige Gischt. Der Wind düngt den Küstensaum quasi mit Jod. Der mit Jodid besprenkelte Saum reicht Siewers zufolge nachweislich etwa hundert Kilometer landeinwärts. Da traditionell an der Küste zudem mehr Seefisch gegessen wird als etwa in Bayern, ist die Jodversorgung der Menschen dort lange Zeit deutlich besser gewesen als in küstenfernen Regionen. Heute haben sich die Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland deutlich verringert - wegen veränderter Essgewohnheiten, vor allem aber durch jodiertes Speisesalz. Das Problem einer mangelnden Jod-Versorgung bleibt indes - fast überall. »In Norddeutschland herrscht derselbe Jodmangel wie in der Alpenregion«, sagt Professor Roland Gärtner von der Medizinischen Innenstadt-Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch er ist übrigens im Internet noch mit der irrigen Annahme vertreten, die Eiszeit sei schuld am Jodmangel unserer Böden. Selbstkritisch sagt Gärtner heute, er könne »nur bestätigen, dass das mit den Gletschern wohl ein Märchen ist«. Dieses gehe auf eine etwa hundert Jahre alte, nie bewiesene Theorie zurück, die »immer wieder abgeschrieben« werde. Sie stehe »in allen Lehrbüchern«, aber es gebe »keinen Beweis« dafür. Deshalb sollte die Irrlehre »künftig auch nicht mehr verbreitet werden«, findet der Mediziner - zu Recht.
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