Pädagogische Pflicht verletzt

Erfurter Amoklauf wird erneut geprüft/Schwere Vorwürfe gegen Schulbehörden

  • Peter Liebers, Erfurt
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Im Bericht der »Gutenberg-Kommission« werden erhebliche Defizite bei der Aufarbeitung des Amoklaufs in dem Erfurter Gymnasium festgestellt.

Thüringens Kultusminister Michael Krapp (CDU) hat am Donnerstag im Bildungsausschuss des Landtages angekündigt, den »Fall« Robert Steinhäuser neu zu prüfen. Der 19-Jährige hatte am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und schließlich sich selbst getötet. Krapp begründete sein Vorhaben mit neuen Erkenntnisse aus dem dieser Tage vorgelegten Bericht der »Gutenberg-Kommission«. Erheblichen Klärungsbedarf sehen auch beide Oppositionsfraktionen. PDS-Fraktionschef Bodo Ramelow wirft Krapp im Zusammenhang mit dem Schulverweis Steinhäusers eine »Kette von Vertuschungen« vor. Er sei froh, dass endlich eine Debatte über das Thema in Gang gekommen sei, betonte er gegenüber ND. Dass Krapp jetzt - zwei Jahre nach der Tat - neue Erkenntnisse gewonnen habe, zeige, dass er eine katastrophale Fehlbesetzung sei. SPD-Bildungsexperte Hans-Jürgen Döring sieht im Zusammenhang mit dem Schulverweis erkennbare Defizite, die Krapp im Ausschuss nicht logisch nachvollziehbar begründet habe. In dem Bericht war der Schulverweis als unbegründet und fehlerhaft beanstandet worden. Nachdem Robert Steinhäuser aus Angst vor einer Prüfung ein ärztliches Attest gefälscht hatte, war ihm von Direktorin Christiane Alt eiskalt erklärt worden: »Sie werden von dieser Schule entlassen.« Steinhäuser war zwar die Möglichkeit eingeräumt worden, ein anderes Gymnasium zu besuchen. Es kümmerte sich aber niemand darum, ob er das auch tat. Den Schulwechsel hätte die Schulaufsicht kontrollieren müssen, rügte Döring. Die pädagogische Pflicht sei hier »erschütternd verletzt worden«, befand PDS-Bildungsexpertin Michaele Sojka. Nach der vollständigen Auswertung des Berichtes müsse es zu dienstrechtlichen Konsequenzen kommen, forderte sie. Bei der PDS bestehe erhebliches Unbehagen darüber, dass erst nach zwei Jahren alle Fakten und Umstände öffentlich eingeräumt werden. So fand sich im »Vorläufigen Abschlussbericht« vom Juni 2002 kein kritisches Wort darüber, dass Direktorin Alt bereits drei Tage nach dem Amoklauf für die Umstände des Steinhäuser-Verweises gerügt worden war. Einem Bericht der Zeitung »Freies Wort« zufolge gab es am Gutenberg-Gymnasium offenbar schon vor Steinhäuser weitere unbegründeten Schulverweise. Der heute 28-jährige Thomas Trier war nach Angaben seines Vaters ein »unbequemer Schüler im besten Wortsinne«. Als Schülersprecher habe sich sein Sohn Thomas unter anderem beim Kultusministerium gegen die Entlassung zweier Sportlehrer beschwert. Das Blatt zitiert ihn weiter: Direktorin Alt »hat meinen Sohn gemobbt, sie hat vermutlich auch Steinhäuser gemobbt«. Der laxe Umgang mit dem Schulrecht in Thüringen beschränkt sich nicht auf Einzelfälle. Bodo Ramelow erläuterte dem ND einen Fall aus Weimar, wo es drei Jahre gedauert habe, ehe sich Eltern und Schüler gegen das Schulamt durchsetzen konnten. Die Behörde hatte Zehntklässlern jahrelang eine zweite Chance zum Abschluss der Realschulprüfung versagt und damit gegen Recht und Gesetz verstoßen. Der Gutenberg-Bericht räumt ein, dass die Umstände des unentdeckt Bleibens der von Steinhäuser ausgehenden Gefahr einen Schatten »auf das allgemein bestehende Problem der Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit im sozialen Umgang« wirft. Es sei zum Beispiel nicht ersichtlich, dass die Lehrer mit pädagogischen oder psychologischen Mitteln in irgendeiner Form Zugang zu den Problemen des Schülers gefunden hätten. Vor allem ältere Schülern empfänden Schule nicht selten als entfremdetes System, in dem Freude am Lernen keine Rolle mehr spielt. Das führe zu aggressiven Stimmungen. Insofern hätte die Tat »an jedem Gymnasium in jeder deutschen Stadt« geschehen können. Wer das Gegenteil behaupte, handle fahrlässig und versperre den Bl...

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