Die gefälschten 98,85 Prozent

Vor 15 Jahren bewiesen Bürgerrechtler den Betrug bei den DDR-Wahlen

  • Wolfgang Hübner
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Am 7. Mai 1989 wurden in der DDR die Kommunalparlamente gewählt. Das Ergebnis war manipuliert - und provozierte politische Proteste, die zur Wende beitrugen.

Eigentlich wollte Wolfgang Ullmann nie wieder wählen. Das letzte Mal hatte er das Ende der 50er Jahre getan und war dann lange Jahre den Wahlen in der DDR ferngeblieben, was ihm in seiner Stasiakte den Titel Wahlverweigerer einbrachte. Abends an Wahltagen kamen regelmäßig die Wahlschlepper, meist Leute von der CDU, die dem Gemeindepfarrer Ullmann unbedingt die Stimme abluchsen wollten. Ein Pfarrer, der die Wahl verweigert, sagt Ullmann, war für die CDU-Funktionäre fast so schlimm wie die Zeugen Jehovas. Im Frühjahr 1989 aber war Ullmann entschlossen, zur Kommunalwahl zu gehen. Der Unmut bei nicht wenigen Menschen in der DDR über mangelnde Versorgung, fehlende Reise- und Meinungsfreiheit, über Bürokratie und Stagnation wuchs und stand in absurdem Gegensatz zu den üblichen 99-Prozent-Wahlergebnissen. In vor allem aus Kirchenkreisen stammenden Bürgerrechtsgruppen wurde - bestärkt durch die Perestroika-Politik in der Sowjetunion - über eine Demokratisierung der DDR diskutiert. Der SED-Führung war einerseits die Gorbatschow-Linie suspekt, andererseits setzte sie spätestens seit dem Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn auf entspanntere Beziehungen zum Westen. In dieser Situation bot sie Ende 1988 an, dass auf den Einheitslisten der Nationalen Front auch Vertreter bis dahin nicht zur Kommunalwahl zugelassener Organisationen - etwa Urania, Freiwillige Feuerwehr und Kleingärtner - kandidieren dürfen. Das nahmen Bürgerrechtler, Friedens- und Umweltgruppen als Signal. Sie forderten ohnehin geheime Wahlen, bei der die Benutzung der Wahlkabine Pflicht ist, sowie die Auswahl zwischen alternativen Wahlvorschlägen statt Einheitsliste. Und sie wollten nun - wie Wolfgang Ullmanns Initiative, aus der im Herbst 1989 die Bewegung Demokratie jetzt hervorging - eigene Kandidaten aufstellen. Doch in den meisten Fällen scheiterte dies - die Behörden verweigerten ihnen die notwendige Wählbarkeitsbescheinigung. Umso genauer versuchten die kritischen Gruppen, am Abend des 7. Mai die Auszählung der Stimmen zu kontrollieren. Zwar wurden sie oft behindert, Korrespondenten westdeutscher Zeitungen durften überhaupt nur wenige ausgewählte Wahllokale betreten. Doch als die DDR-Führung ihr offizielles Ergebnis von 98,85 Prozent verkündete, war zweierlei klar: Erstens war man unter den fantastischen 99,8-Prozent-Zahlen der letzten Wahlen geblieben. Und zweitens war immer noch eine Menge Manipulation im Spiel. Das Ergebnis müsse »nach außen vertretbar sein«, hatte Politbüromitglied Horst Dohlus die Parteifunktionäre vergattert. Entsprechend wurde auf dem Weg von der Kommune bis zur Zentrale geschönt und gefälscht. Nein-Stimmen wurden in ungültige Stimmen, ungültige in Ja-Stimmen umgedeutet, Zahlen wurden frisiert. Rund zehn Prozent, in manchen großen Städten bis zu 20 Prozent der Menschen stimmten nicht für die Kandidaten der Nationalen Front, ermittelten die unerwünschten Kontrolleure. Der Theologe Ullmann hatte schon einige Tage zuvor im Sonderwahllokal abgestimmt. Seine Frage, wie eine Gegenstimme auszusehen habe, stürzte die Wahlkommission in erhebliche Verwirrung. Denn Ablehnung war nicht vorgesehen. Erwünscht war, den Zettel mit den Namen der Kandidaten nur zu falten und in die Urne zu stecken. Dass jemand in die Wahlkabine ging, war nicht gern gesehen, denn das, so Ullmann, »war schon so etwas wie eine Kampfansage an das Herrschaftsmonopol der SED«. Der am 7. Mai 1989 erstmals dokumentierte Wahlbetrug brachte die Bürgerrechtler auf die Palme. Das »Neue Deutschland« schickte ihnen einen gehässigen Kommentar hinterher, in dem von Wahnvorstellungen und Fieberträumen die Rede war. Ullmann, später Minister in der Regierung Modrow, schrieb damals einen - freilich nicht veröffentlichten - Leserbrief: »Erst beschwindelt ihr uns und dann verspottet ihr uns auch noch.« Da die Staatsanwaltschaften Strafanzeigen wegen Wahlfälschung zurückwiesen, protestierten in Berlin an jedem 7. der folgenden Monate vor allem junge Leute gegen die Fälschung - bis hin zum 7. Oktober, als im Palast der Republik die DDR...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.