Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Alles spricht zur Stunde für Edouard Balladur

Frankreich: 100 Tage vor der Präsidentenwahl hat der Premier seine Kandidatur bekanntgegeben Von VICTOR SONNANT, Paris

  • Lesedauer: 4 Min.

Mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur für das Präsidentenamt am Mittwoch kann sich der französische Premier Edouard Balladur seines Einzugs in den Elysee-Palast im Mai schon fast sicher sein -jedenfalls kommen die meisten Beobachter angesichts jüngster Umfragen zu diesem Urteil.

Ganz Majestät - Edouard Balladur

Foto: Reuter

So können sich 65 bis 71 Prozent der Franzosen den Premier als Präsidenten vorstellen, dagegen nur 51 bis 55 Prozent seinen ebenfalls gaullistischen Mitbewerber, den Pariser Bürgermeister und Ex-Premier Jacques Chirac. Im ersten Wahlgang könnte Balladur gleich mit 29 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen, ein Sozialist mit 24, Chirac nur mit 16, der Rechtsextreme Le Pen mit zehn Prozent. Der mit einem populistisch-antieuropäischen Programm angetretene Rechtspolitiker de Villiers dürfte dagegen keine Rolle spielen. Das trifft auch auf die Grünen zu, die völlig zerstritten mit drei Kandidaten auftreten. Die FKP rechnet für ihren Parteichef Hue mit neun Prozent der Stimmen.

Wieder einmal überwiegen in einem Wahlkampf in Frankreich die persönlichen Ambitionen der Politiker gegenüber Ideen und Programmen. Was zählt ist z. B. die Zustimmung fast aller Minister für Balladur, allen voran der einflußreiche Innenminister Pasqua. Balladur kann zudem mit Unterstützung in der Parteienvereinigung UDF rechnen, um die er lange und ausdauernd geworben hat. Ein konkretes Programm aber hat er nicht.

Der Kandidat steht eher für politische Kontinuität und wirtschaftliche Stabilisierung, allerdings „sozial verträglich“. Auch er sieht in der Arbeitslosigkeit das dringendste Problem und will sie in fünf Jahren um eine Million vermindern -

ohnr jedoch konkret zu sagen wie. Er ruft zwar zur Verständigung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften auf, äußert sich aber bisher nicht zu Ideen für mehr Arbeitsplätze, etwa den befristeten Erlaß von Sozialabgaben.

Außenpolitisch plädiert Balladur für eine konsequente Fortsetzung der europäischen Einigung bei Wahrung einer gewichtigen Rolle Frankreichs an der Seite Deutschlands. Da traf es sich gut, daß ihm Kanzler Kohl gerade die Gnade eines „Privatbesuchs“ erwies. Nicht zuletzt gehört zu Balladurs Erfolg auch sein Image, seine Ausgeglichenheit und Beherrschung, sein „majestätisches“ Auftreten, das bei den Franzosen Eindruck macht.

Andererseits zeigte er sich auch als großer Zauderer, etwa bei den Straßenblockaden der Lastwagenfahrer oder beim Streik der Air-France-Beschäftigten. Doch das hat ihm wenig geschadet. Auch nicht die Korruptionsaffären dreier seiner Minister. Dagegen profitierte er kürzlich ganz beträchtlich vom Handstreich gegen die islamistisch-fundamentalistischen Geiselnehmer einer Air-France-Maschine .

Jacques Chirac hat dem wenig entgegenzusetzen. Auch das populistische Aufgreifen sozialer Themen wie die Requirierung leerstehender Häuser in Paris für Obdachlose hat eher potentielle bürgerliche Wähler verschreckt und keine neuen von links hinzugewonnen. Chirac gilt als Typ des in

jahrzehntelangen innenpolitischen Querelen diskreditierten Berufspolitikers.

Auf der Linken bietet sich keine echte Alternative, sondern „ein Trümmerfeld“, wie es Ex-Premier Rocard zur Empörung seiner sozialistischen Parteifreunde nüchtern einschätzte. Statt nach einer neuen Integrationsfigur zu suchen, toben in der Partei kleinliche Grabenkämpfe der verschiedenen SP-Führer, seit Jacques Delors seinen Verzicht auf eine Kandidatur bekanntgegeben hat. Als „Kandidat für die Kandidatur“ der Sozialisten hat sich der ehemalige Bildungsminister Lionel Jospin selbst vorgeschlagen. Er kann aber nicht auf die Unterstützung der Linkspartei „Radikal“ rechnen. Sie tendiert eher zum ehemaligen Kulturminister Jack Lang, der auch in den Meinungsumfragen weit vor Jospin liegt. Ein Sonderparteitag im Februar soll nun einen Kandidaten aushandeln.

Wenn die Front seiner Gegnerweiter so zersplittert bleibt, ist Balladur der Thron in der Tat sicher und ein eher langweiliger Wahlkampf zu erwarten. Doch es gibt noch eine Ungewißheit - den 71jährigen Lyoner UDF-Abgeordneten und Ex-Premier Raimond Barre, von dem selbst Francois Mitterrand öffentlich erklärte, er sei „einer der geeignetsten, den Staat zu führen“. In keine Affären verwickelt, als kluger Wirtschaftsexperte bekannt, tritt Barre ausgeglichen und überzeugend auf. Er repräsentiert nicht zuletzt die in der UDF zusammengeschlossenen kleineren bürgerlichen Parteien, die sich von den Gaullisten an den Rand gedrängt fühlen. Doch noch hat er nicht zu erkennen gegeben, ob er sich überhaupt zur Wahl stellt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal