Siphra und Pua

Eine Geschichte von zivilem Widerstand. Eine Geschichte für Friedrich Schorlemmer

  • André Brie
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Geschichte von Siphra und Pua ist mehr als dreitausend Jahre alt. Sie erzählt von zwei Frauen im alten Ägypten, in einer Sklavenhaltergesellschaft ohne Menschenrechte, Verfassung, Gewaltenteilung und Demokratie. Das herrschende Regime war ohne Zweifel diktatorisch. Es unterdrückte das eigene Volk und andere Völker, beutete sie, wie man sicher weiß, erbarmungslos aus. Ein rechter Schurkenstaat. Dennoch hatten israelitische Flüchtlinge dort Zuflucht gefunden und waren wohl sehr nützliche und lange Zeit gelittene Gastarbeiter, bis die Herrschenden befanden, das Boot sei voll. Das zweite Buch Mose beginnt mit »Wachstum und Bedrängnis der Kinder Israel in Ägypten«. Die Zahl der Migrantinnen und Migranten in Ägypten nahm den Berichten zufolge rasch zu: »Wuchsen die Kinder Israel und zeugten Kinder und mehrten sich und wurden sehr viel, dass ihrer das Land voll ward.« Ein Schengener Abkommen gab es ebenso wenig wie restriktive Asylverfahren, eine Regelung über »sichere Drittstaaten«, Abschiebehaft, aber der neue Pharao und die herrschende Administration hatten eigene Methoden. Mit brutaler Unterdrückung und Ausbeutung wollte man die Vermehrung der Hebräer zunächst eindämmen; »man setzte Fronvögte über sie, die sie mit schweren Diensten drücken sollten«. Als das nicht genügte, verschärfte der herrschende Diktator das Vorgehen gegen die Asylanten noch und befahl den Wehmüttern (Hebammen) des Landes: »Wenn ihr den hebräischen Weibern helft und auf dem Stuhl seht, dass es ein Sohn ist, so tötet ihn; ist's aber eine Tochter, so lasst sie leben.« Die Bibel, die nicht von allzu vielen Frauen Genaueres berichtet (und wenn, dann meistens von Frauen aus den Herrschaftsfamilien; wie anders sollte es in jener männerbeherrschten Zeit und Kultur auch gewesen sein), überliefert die Namen von zwei Hebammen, Siphra und Pua, an die der königliche Befehl zum Mord erging. In Luthers Übersetzung erscheinen sie als Hebräerinnen, eine Bezeichnung, die im zweiten vorchristlichen Jahrtausend aber wohl nicht nur Israeliten, sondern auch andere Menschen umfasste, die nicht die Rechte der alteingesessenen Landesbewohner besaßen (dieser alttestamentarische Begriff hätte bestimmt auch die Palästinenser eingeschlossen). Es ist erstaunlich: Obwohl auch die Bibel von Herrschaftsgeschichtsschreibung geprägt ist, blieben die Namen zweier ganz einfacher Frauen erhalten, deren Beruf gar als »unreine« Tätigkeit galt, bewahrt über all die Jahrtausende und trotz der vielfachen Veränderungen, Umstellungen, Tilgungen, Zusätze, denen die Schrift unterworfen war. Noch bemerkenswerter: Siphra und Pua widersetzten sich dem Pharao. »Für Kaiser, Gott und Vaterland!« müsste, so denkt man oft, mit anderen Worten in dieser frühen Staatenzeit eine alltägliche Selbstverständlichkeit gewesen sein für die Unteren im Volke. Für die beiden Frauen scheint sie schon dreitausend Jahre, bevor hochgebildete und von langer Emanzipationsgeschichte ermutigte Freigeister solche Zusammenhänge in Frage stellten, nicht bestanden zu haben. Du sollst nicht töten! - war ihnen, die jeden Tag zu Leben verhalfen, die viel elementarere, die entscheidende Voraussetzung menschlichen Bestehens: »Aber die beiden Wehmütter fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben.« Mit weiblicher, menschlicher List antworteten sie dem Pharao: »Die hebräischen Weiber sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind harte Weiber; ehe die Wehmutter zu ihnen kommt, haben sie geboren.« Dem Alten Testament zufolge belohnte Gott Siphra und Pua und »baute er ihnen Häuser«. Ich lese solche Sätze als Bild. Vielleicht war es eben auch in jener Gesellschaft, die ein heutiger Präsident in die Achse des Bösen eingeordnet hätte, schon eine Frage der allgemeinen Moral und der gemeinsamen Selbsterhaltung, dass Leben für viele Menschen und ganz besonders für jene, die ohnehin kaum anderes hatten, als höchstes Gut galt, und es hat nicht Gott, sondern die allgemeine Meinung den Hebammen »Gutes getan« und die Erinnerung an sie bewahrt? Vielleicht sollte ich gar fragen, ob unsere so hochgelobte und gegenwärtig durch einen Krieg »gegen den Terror und die Barbarei« verteidigte (?) Zivilisation tatsächlich weiter gekommen ist als jene Frauen und die so starke Erinnerung an sie, die die Jahrtausende und alle Umbrüche (auch jene in den Schriftfassungen des Alten Testaments) überstanden hat? Ich möchte nicht allzu oft abschweifen. Siphra und Pua müssen gewöhnliche, ungewöhnliche Frauen gewesen sein. Natürlich weiß ich, dass ihre Befehlsverweigerung den Autoren der Bibel vor allem deshalb bemerkenswert war, weil sie zur Bewahrung und Rettung der israelitischen Völker beigetragen hat. Doch anders als viele andere Begebenheiten hat diese Geschichte auch die Namen zweier einfacher Frauen und ihres menschlichen Ungehorsams gegen die herrschende Diktatur überliefert, eines Ungehorsams, der, da mag ich doch wieder in die Gegenwart abirren, mehr bewirkt hat für das eine unverzichtbare Menschenrecht, leben zu dürfen, als es die Kriege vermochten, die angeblich für Demokratie und Zivilisation geführt werden und letztlich das Gegenteil ihres vorgeblichen Zieles erreichen. Doch auch die Geschichte im zweiten Buch Mose geht weiter, denn Diktaturen können mit Clusterbomben, Raketen, Granaten und intelligenter Munition hinweggefegt werden (Diktatur, ich wiederhole mich, der wachsen wie Hydra, der furchtbaren Wasserschlange, durch Krieg nur neue Köpfe nach). Mündige Menschlichkeit hat es viel schwerer, einen Diktator zu stoppen, aber wiederum ist sie letzten Endes einzig chancenreich, Unmenschlichkeit, Gewalt und Terror nachhaltig zu überwinden. Von dieser Überzeugung jedenfalls bin ich nicht abzubringen, und schon in dieser frühen Zeit des zweiten Buch Mose muss sie ihre Verfechter gehabt haben. Verfechterinnen. War er den beiden Hebammen auch unterlegen gewesen, der Pharao ließ von seinem völkermordenden Plan nicht ab. Nun gebot er: »Alle Söhne, die geboren werden, werft ins Wasser.« Und wieder berichtet das Alte Testament von widersetzlichen Frauen, drei gleich, die unabhängig voneinander einen Jungen retteten, der viele Jahre später als weiser Mann seinem Volk die ungeheure Botschaft überbrachte: Du sollst nicht töten. Die Namen der drei Frauen bleiben diesmal allerdings verschwiegen. Die eine war eine Tochter Levi und Frau eines Mannes aus dem Hause Levi. Sie wurde schwanger und gebar einen Sohn, den sie sofort von Herzen geliebt haben muss: »Und da sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monde.« Als die Mutter ihren Sohn schließlich nicht mehr verstecken konnte, setzte sie ihn gewiss mit Tränen und mit ihrer fortwährenden Liebe doch ins Wasser des Nils, aber sie machte »ein Kästlein von Rohr und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind darein«. Die zweite Frau war die Schwester des Jungen, die ihre Mutter beobachtete, und die dritte Frau wiederum war die Tochter des Diktators. Auch sie müssen sehr wohl gewusst haben, was sie taten, als sie die Weisungen des Herrschers missachteten. Die Pharaotochter ließ das Kind aus dem Fluss holen und sagte: »Es ist der hebräischen Kindlein eins.« Die herbeigeeilte Schwester, die ihren Bruder nicht aus den Augen gelassen hatte, sprach zu der Prinzessin: »Soll ich hingehen und der hebräischen Weiber eine rufen, die da säugt, dass sie dir das Kindlein säuge? Die Tochter Pharaos sprach zu ihr: Gehe hin.« Der Fortgang ist bekannt. Als das Kind der Amme nicht mehr bedurfte, brachte die Schwester es zur Tochter des Pharao, die es als ihren Sohn annahm, »und sie hieß ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.« Mose führte sein Volk aus der Gefangenschaft. Das war und ist eine große Geschichte. Doch die seiner und anderer Rettung unter den Bedingungen einer blutigen Knechtschaft, mit der Menschlichkeit und dem Mut von fünf Frauen, stärker als die Macht eines Diktators, ist keine kleinere. Siphra und Pua, Moses Mutter und Schwester, die Tochter des Pharao nicht vergessen, das sind Menschen und Geschehnisse auf nicht einmal einer Seite des Alten Testaments. Mir scheint diese große Seite nicht im Entferntesten zu Ende geschrieben in der Gegenwart. Ich möchte mir die beiden Hebammen vorstellen. Sehr alt werden sie nicht gewesen sein, doch wenn der Pharao ausgerechnet sie zu sich rufen ließ, werden sie sicherlich zu den Erfahrenen in ihrem Beruf gehört haben. Wer könnte lebens-erfahrener sein als eine Hebamme. Der Hebammenberuf macht derb und direkt, behutsam und empfindsam gleichermaßen. Jedenfalls möchte ich Siphra und Pua so sehen. Was sagten sie mir, wenn ich ihnen davon erzählte, dass die »christlich-abendländische Zivilisation« sich mit der »Mutter aller Bomben« »verteidigt«? Ich möchte glauben, dass sie mich auslachten, diesen Menschen aus dem dritten nachchristlichen Jahrtausend, der wohl nicht mehr weiß, was das bedeutet: Mutter. Sie können einfach nicht auf den Gedanken kommen, dass man mehr als dreitausend Jahre nach ihnen elektronische Zäune gegen Flüchtlinge aufbaut, offen und offiziell mit dem Einsatz atomarer Vernichtungswaffen droht, um angebliche Sicherheit zu gewährleisten, mit Hunderttausenden Soldaten, mit Panzern und Kampfflugzeugen und über die Leichen von Tausenden Menschen Demokratie und Menschenrechte durchsetzen will. Nein, ich mag nicht, dass Pua und Siphra auch nur auf die Idee kommen könnten, darüber müsse man ernsthaft miteinander reden. Meine Pua und meine Siphra können es nur für absurd halten. Wozu sonst hatten sie ihren Mut aufgebracht und der Obrigkeit erfolgreich widerstanden? Habt ihr denn keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, werden sie mich fragen. Doch, es ist viel leichter als zu euren Zeiten, werde ich antworten, wir haben sogar ein Widerstandsrecht in unserem Gesetz. Ein Recht, werden sie weiterfragen, und was ist mit eurer Pflicht, dem zu widerstehen? Zusammen mit Texten von Franz Alt, Eugen Drewermann, Walter Jens, Rita Süssmuth, Klaus Staeck, Antje Vollmer und vielen anderen wird diese Geschichte in dem Band »Huren, Helden, Heilige. Biblische Porträts aus prominenter Feder« enthalten sein, der im Gütersloher Verlagshaus erscheint (Hg. Stephan Dorgeloh, Jörg Göpfert u. Wolfgang Thierse, 192 S., geb., 14,95 EUR).

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