Hitlers „Nerobefehl“
fall, sondern ein bewußter Affront gegen Speer, der seit Wochen kaum etwas anderes mehr tat, als gemeinsam mit seinen industriellen Vertrauten, besonders mit Spitzenmanagern des Ruhrgebiets wie Albert Vogler und Walter Rohland, zu prüfen, wie die „industrielle Substanz“ vor den herostratischen Plänen der politischen und militärischen Führung zu bewahren sei.
Speer hatte am 30. Januar, als die deutschen Ostgebiete von der Generaloffensive der Roten Armee überrollt wurden und das oberschlesische Industrierevier verlorenging, dem „Führer“ offenherzig erklärt, daß der Krieg auch wirtschaftlich verloren sei. Mitte März verfaßte er eine neue Denkschrift für Hitler („Wirtschaftslage März-April 1945 und Folgerungen“) - ein Ergebnis seiner Beratungen mit den Chefs der Rüstungsindustrie, denen er versichert hatte, „daß ich mit meiner Person und meinem Kopf dafür einstehen werde, die Betriebe auch bei einer weiteren Verschlechterung der militärischen Lage auf keinen Fall zerstören zu lassen“ In der März-Denkschrift stand klipp und klar, es sei wegen des Verlusts Oberschlesiens, wegen der pausenlosen Luftangriffe auf das deutsche Verkehrswesen - der schwersten während des ganzen Krieges und wegen der allgemeinen Kohlen- und Energienot „in 4 bis 8 Wochen mit dem endgültigen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft mit Sicherheit zu rechnen“ Die ganze Argumentation der Denkschrift konzentrierte sich darauf, Zerstörungen an „Industrieanlagen, Kohlenbergwerken, Elektrizitätswerken und anderen Versorgungsanlagen sowie Verkehrsanlagen, Binnenschiffahrtsstraßen usw “ durch die eigenen Truppen und durch Parteidienststellen zu: verhindern,;'„Wir??müssen alles tun, um dem Volk, wenn vielleicht auch in primitivsten Formen, bis zuletzt eine Lebensbasis zu erhalten. ... Wir haben kein Recht dazu, in diesem Stadium des Krieges von uns aus Zerstörungen vorzunehmen, die das Leben des
treffen könnten
Es sieht ganz so aus, als ob Hitler die Denkschrift vor Abfassung des Nerobefehls gelesen hat, weil er seinen Befehl bis in die Formulierungen hinein als eine radikal negative Antwort darauf verfaßte. Für diesen Fall muß er unsicher gewesen sein, wie er mit dem aufsässigen Minister verfahren solle, der ihm bisher so eng wie wenige vertraut war und ihm, wenn man so will, auch persönlich nahe stand.
Es zeigte sich aber nun, daß Hitlers Macht ebenso wie die Macht der zerstörungswütigen und blind-gehorsamen Generale und der Parteifanatiker schon an Grenzen stieß. Speer konnte sich inzwischen auf erhebliche Teile der herrschenden Klasse stützen. Seine und der Industriellen Position entsprach letzten Endes auch dem Interesse der breiten Bevölkerung. Es war zu erwarten, daß die Auseinandersetzung um Vernichtung oder Erhaltung heftige Formen annahm. Ihr Ausgang war keineswegs schon entschieden.
Für die folgenden Ereignisse fehlen schriftliche Quellen fast ganz. Sie sind von Beteiligten später beschrieben worden, vor allem vor dem Nürnberger Militärtribunal der Alliierten, vor dem auch Speer angeklagt war Gemeinsam ist den Zeugendarstellungen, daß sie die exponierte Rolle des Rüstungsministers hervorheben, die denn auch für die entscheidenden Tage seit dem 19 März ausreichend zu belegen ist.
19 bis 20. März: Verhandlungen Speers im Ruhrgebiet mit Militärs, Rüstungs- und Parteistellen über die „Erhaltung der Substanz“ Der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, reagiert negativ Generalfeldmarschall Walter Model, Chef der Heeresgruppe B, bricht die Verhandlungen nach Eingang des für alle überraschenden Hitler-Befehls ab.
21. bis 24. März: Pausenlose Konferenzen in Berlin mit den Spitzen des Rüstungsministeriums und der Rüstungsorganisation, mit Verkehrsministerium und Parteikanzlei, mit dem Generalstab des Heeres (Generaloberst Heinz Guderian), mit dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, und mit Propagandaminister Goebbels.
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