Die Hauptstadt der Hindus
Zwischen Risiko und Bereicherung - Parallelgesellschaften in Hamm und Berlin
Ein Tempel in Hamm, ein Gräberfeld in Berlin, islamistische Vereine in ganz Deutschland. Wo beginnt die Parallelgesellschaft, vor der die Deutschen sich fürchten müssen?
Hamm. Westfalen. Eine Stadt, wie viele andere im Sauerland, am Rande des Ruhrgebiets. Grün, historisch, etwas miefig. Hier ist das deutsche Vorurteil quasi zu Hause. Und doch hat die Stadt einen Ruf gewonnen, von dem kein noch so ehrgeiziger Bürgermeister je zu träumen gewagt hätte. Weit über Deutschland hinaus wird der Name mit Bewunderung ausgesprochen: Hamm, Hauptstadt des Hinduismus in Deutschland.Ein tristes Industriegebiet am Stadtrand birgt die Quelle jenes Rufes: der Sri Kamadchi Ampal Tempel. Der rot-weiß gestreifte Bau erinnert an ein Zelt, wäre da nicht der sandfarbene Turm im Stil des Tempelschreins. Hier hielt Sri Kamadchi Ampal, die Göttin mit den »Augen der Liebe« Einkehr.
Mag sein, dass ihre Aura dem Priester Sri Paskaran half, die Stadtoberen gnädig zu stimmen. Doch mehr noch mag seine eigene sie betört haben. Wie einem orientalischen Märchen entsprungen, flößt er Respekt und Mitleid, Irritation oder Befremden, Furcht und Neugier zugleich ein. Das Priesterkleid bunt und streng in einem, das Haar umhüllt das Gesicht wie Watte und scheint dem Kopf doch erst Halt auf den schmalen Schultern zu geben. Sanfte, leise Stimme, die keinen Zweifel zulässt.
Die Götter führten ihm den Finger
Wenn Sri Paskaran eine Entscheidung zu treffen hat, tut er es, wie sich das für einen Priester gehört. Er überlässt sie den Göttern. Drei Orte waren ihm für den Tempelneubau vorgeschlagen worden. Bis dahin hatte die Göttin Sri Kamadchi Ampal mit einem kleinen Andachtsraum im Keller seines Mietshauses und später einer Wäscherei Vorlieb nehmen müssen. In jährlichen Prozessionen durch die Nachbarschaft sorgte sie für Aufregung. Bei den in Scharen herbeiströmenden gläubigen Hindus und Neugierigen, aber auch bei missgünstigen Nachbarn.
Als Sri Paskaran das einstige Industriegebiet in Hamm-Uentrop sah, war die Entscheidung auch schon gefallen. Sie wurde ihm quasi in einer Eingebung zuteil. Als günstige irdische Umstände kamen die Abgelegenheit, Weitläufigkeit und der nahe Fluss hinzu, der für manches Ritual unverzichtbar ist.
Auch als der Priester zum indischen einen deutschen Architekten für den Tempelneubau in den Gelben Seiten suchte, halfen ihm die Götter. Sie führten seinen Finger, den er mit leerem Blick auf eine der Adressseiten fallen ließ. Mittlerweile ist Sri Paskaran, der 1985 als Flüchtling aus Sri Lanka nach Deutschland kam, nicht nur Priester des größten Hindu-Tempels in Europa. Er ist auch Beispiel dafür, wie eine fremde Religion und Kultur sich als Segen für eine einheimische Kommune erweisen kann.
In einer Erklärung der Stadt Hamm vom Februar 1997 heißt es, dass der Tempel »Bedeutung für das kulturelle Leben der Stadt erlangt« habe. Die Unterstützung sei »Ausdruck für die Offenheit und die Kraft, fremde Sitten und Gebräuche zu integrieren«. Bis zu 10000 Menschen kommen mittlerweile zum jährlichen Tempelfest, sogar Kanadier wurden schon ausgemacht. Bei der Prozession umrundet die Göttin den Tempel in einem prächtig geschmückten Wagen und segnet dabei die Stadt und ihre Bewohner. Wie man sieht, mit Erfolg, und die Stadtoberen mögen darob dankbar heimlich eine Kerze stiften.
Beileibe nicht überall finden aufgeschlossene Bürgermeister eine solch göttliche Anerkennung. Jenes einstige Stadtoberhaupt der schwäbischen Gemeinde Lauingen etwa, der auf die vorauseilend bescheidenen Pläne für einen Moscheebau entrüstet reagierte: In seine Stadt gehöre eine ordentliche Moschee - mit Minarett und allem Drum und Dran bitteschön! Als er bei der nächsten Kommunalwahl durchfiel, frohlockten die Moscheegegner: Der »Überfremdungsfanatiker« dürfe sich nun nach einer neuen Beschäftigung umsehen.
Überfremdung - eine diffuse Furcht treibt das Vorurteil, das in Jahrhunderten geschmiedet wurde. Gerade im heutigen Europa, wo Religion über Jahrhunderte mit Feuer und Schwert verbreitet wurde. Vor allem durch Christen. Dabei ist religiöses Nebeneinander seit der Antike Normalzustand der Geschichte, wie Karsten Lehmann, Religionssoziologe, auf einer Tagung mit der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck erläuterte. Babylonisches Gewirr findet sich auch in den in Deutschland praktizierten Religionen. Neben Protestanten und Katholiken, die mit jeweils über 27 Prozent die Mehrheit der Gläubigen vereinen, gibt es 1,8 Millionen Menschen in freien und orthodoxen christlichen Kirchen.
Der Islam ist mit rund 3,2 Millionen Anhängern (knapp vier Prozent) die zweitgrößte Religion. Unter den Muslimen finden sich auch bis zu 500000 deutsche Staatsbürger, davon über 10000 in Deutschland geborene. Einst knapp 30000 Mitglieder stark, ist die Gemeinschaft der Juden in den letzten Jahren auf 100000 gestiegen. Darüber hinaus gibt es rund 150000 Buddhisten, 90000 Hindus und 140000 Gläubige, die die Statistik unter »Sonstige« führt.
Der Muezzin ruft meist von innen
Die Vielfalt der Religionen ist schier endlos, allein die Muslime in Deutschland sind in 2200 Moscheevereinen versammelt. Der erste islamische Verein, schon in den 1950er Jahren gegründet, blieb für lange Zeit eine Ausnahme. Nicht einmal die massenhafte Einwanderung von Muslimen nach der Anwerbung von Arbeitskräften nach Westdeutschland in den 60er Jahren änderte etwas daran. Erst mit dem Anwerbestopp 1973 begannen sich religiöse Vereine auf lokaler Ebene zu etablieren, weil die Männer aus der Türkei ihre Familien nachholten und sich damit ihr Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlagerte, das nicht mehr nur Arbeitsplatz war.
Nach der Überlieferung stieg der erste Muezzin - der freigelassene afrikanische Sklave Bilal - auf das Dach des Hauses von Muhammed, um zum Gebet zu rufen. Inzwischen sind in der Regel Minarette an den Moscheen entstanden, aber der Gebetsruf ertönt in Deutschland meist im Inneren der Moschee. Doch während vor einigen Jahren Muezzinrufe und Parkplatzprobleme Widerstand von Einheimischen weckten, begleiten heute offene Zweifel an der Redlichkeit der Muslime den Bau neuer Moscheen, wie eine aktuelle Debatte in der Berliner Sozialdemokratie zeigt.
Während die einen Eingriffe des Staates in die Religionsfreiheit ablehnen, rütteln andere wie der ehemalige Bausenator Peter Strieder an eben diesem Verfassungsgrundsatz. Misstrauen und Ängste dominieren die öffentliche Debatte, namentlich über Religion in Gestalt des Islamismus. »Hassprediger« werden zum Inbegriff islamistischer Intoleranz und Terrorgefahr. Religionen anderer Kulturkreise begegnet man mit mehr Neugier und Aufgeschlossenheit. Ob jedoch Islam, Buddhismus oder Judentum - das Urteil über Religionen kommt weitgehend ohne Sachkenntnis aus, wie Marieluise Beck konstatiert.
Auf jener Tagung in Berlin wurden Defizite in Politik und Wissenschaft beklagt. Zwar werden in staatlichen Programmen wie ENTIMON interkulturelle und interreligiöse Projekte durchaus gefördert, doch neige die Politik dazu, Religion vor allem unter dem Vorbehalt von Autoritäts- und Ordnungsvorstellungen zu betrachten. Diesen Vorwurf erhob namentlich Gritt Klinkhammer vom Vorstand des Religionswissenschaftlichen Dienstes in Marburg, der die Veranstaltung in Berlin zum Auftakt der Bildung eines bundesweiten Netzwerkes Migration und Religion machte.
So ist es auch kein Zufall, dass die Bewertung von islamischen Organisationen zumeist mit einem Zitat aus dem Verfassungsschutzbericht auskommt. »In 24 islamistischen Organisationen waren 30950 Personen (2002: 30600) eingebunden, von denen rd. 26500 türkischen und rd. 3300 arabischen Ursprungs sind«, so lautet das Urteil der Staatsschützer über die vermeintlich extremistischen Vertreter des Islam in Deutschland.
Erschwerend für eine Bewertung von Organisationen mit muslimischem Hintergrund ist die politisch oder kulturell begründete Zielsetzung. Eine rein religiöse Organisierung im Sinne muslimischer Kirchen gibt es nicht - Muslim wird man durch Geburt oder Konversion zum Islam. Die islamischen Vereine sind daher allenfalls organisatorische Träger bestimmter Moscheen, die Vereinsnetze bilden und nicht selten auch politische Konkurrenten sind. Die Muslime, die dort religiöse Angebote wahrnehmen, sind gar nicht notwendig Mitglieder der jeweiligen Vereine.
Doch nicht die Religion ist das Problem, sondern ein Sammelsurium von Gründen wie Integrationsverweigerung, soziale Benachteiligung, Rückbesinnung auf traditionelle Werte, die sich an Ansprüchen westlichen Lebensstandards brechen und nicht zuletzt: kulturelle oder familiäre Bande in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten oder kurdischen Krisenregionen. Martin Baumann, Professor für Religionswissenschaften an der Universität in Luzern, entnimmt seinen Studien, dass Migranten in der neuen Umgebung religiöser sind als vorher. Trost und Sicherheit in neuer, fremder Umgebung sind Motiv der Wiederentdeckung religiöser Tradition.
Zehn Gebote der Hindus
Doch die Religiosität hat oft andere Folgen als vermutet. Sie wirke durchaus sinnstiftend, die Kennzeichnung der Differenz zu den Einheimischen kann als Mittel der Beheimatung wirken, meint der Forscher. Religion kann damit integrationsfördernd sein. Und Migration verändert Religion, wie ein Beispiel in Großbritannien zeigt: Indische Einwanderer gaben sich dort die »Zehn Gebote der Hindus«.
Parallelgesellschaft oder nicht - religiöse Gemeinschaften werden immer Räume der Selbstverwirklichung suchen, egal, wo sie sich finden. Ein Tempel in Hamm oder eigenes Gräberfeld der vietnamesischen Buddhisten in Berlin - kaum jemand kann daraus eine Gefährdung hiesiger Ordnung ableiten. Um das Gräberfeld in Berlin-Charlottenburg wurde ein monatelanger Kampf gegen bürokratische Hürden geführt. »Das Misstrauen ist sehr groß«, sagt Dinh-Hung Nguyen von der Vietnamesisch-Buddhistischen Gemeinde Berlin. Für die Buddhisten sei nicht wichtig, wo man begraben ist, sondern wie.
Man habe eingewilligt, den abgelegenen Teil eines Friedhofs in Berlin zu nutzen, aber über eine Buddha-Figur gibt es immer noch Unsicherheit. »Dabei ist sie ja nur vier Meter hoch«, sagt Dinh-Hung Nguyen verwundert in das unsichere Lachen der Zuhörer der Berliner Veranstaltung. »Als Lebender sollst du ein sicheres Haus haben, als Toter ein sicheres Grab«, so heißt es bei den Buddhisten. Das diesjährige Tempe...
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