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  • 23. April 1945: Der Mord an 15 Widerstandskämpfern im umkämpften Berlin / Die Dresdner Gruppe des NKFD

Es geschah in der Invalidenstraße

  • Lesedauer: 3 Min.

Kampflärm lag in der ersten Stunde des 23. April 1945 über Berlin. Sowjetische Truppen waren bereits in Pankow und am Prenzlauer Berg. So fielen wohl die Schüsse nicht sonderlich auf, die in der Invalidenstraße, schräg gegenüber dem Zellengefängnis an der Lehrter Straße, fünfzehn Leben auslöschten. Genickschüsse auf Befehl von SS-Gruppenführer Müller, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes. Einer der Todeskandidaten aus dem Zellengefängnis, Herbert Kosney, überlebte verletzt das Massaker

Unvermittelt waren in der Nacht zum 23. April durch ein SS-Kommando eine Gruppe Gefangener zusammengestellt: zum Tode Verurteilte des 20. Juli und Sippenhäftlinge mit bekannten Namen sowie Antifaschisten, deren Namen der

Vergessenheit anheimzufallen drohen. Kaltblütig ermordet wurden u.a. Albrecht Haushofer, Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher, der sowjetische Kriegsgefangene Sergej Sossinow sowie Carl Marks und Hans Ludwig Sierks.

Der Geschäftsführer einer Dresdner Druckmaschinenfirma Carl Marks, Sohn des Direktors der 1931 durch ihren spektakulären Zusammenbruch bekannt gewordenen Darmstädter und Nationalbank, und der Bauingenieur Hans Ludwig Sierks, SAP-Mitglied, waren durch Freislers Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden, weil sie, gemeinsam mit zehn anderen, dem im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 verfolgten

General der Artillerie Fritz Lindemann beim Untertauchen in die Illegalität geholfen hatten. Marks hatte die Absicht, mit Hilfe des Oberstleutnants Horst von Petersdorff, Stiefvater Heinrich Graf von Einsiedeis und Leiter der deutschen Industriekommission in der Slowakei, Lindemann in die Slowakei auszuschleusen. Als das nicht gelang, half Sierks, den General bei einem Freund, dem Architekten Dr -Ing. Erich Gloeden, in Berlin unterzubringen. Dieser war der Sohn jenes jüdischen Bronzegießereibesitzers Siegfried Loevy, von dem die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ am Reichstagsgebäude stammt.

Durch einen Denunzianten kam die Gestapo den Helfern

auf die Spur. Der General starb nach der Verhaftung an einem Bauchschuß. Neben Marks und Sierks wurden auch Gloeden, seine Frau und seine Schwiegermutter zum Tode verurteilt. Sie wurden als „jüdische Mischlinge 1. Grades“ sofort hingerichtet.

Sierks hatte sich nicht nur im Fall Lindemann bewährt. Als er bereits deshalb in Haft war, kam die Gestapo in Dresden einer 21 Personen starken Gruppe des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ auf die Spur, der er angehört hatte. Deren Mitglieder kamen aus den verschiedensten politischen Lagern und sozialen Kreisen; zu ihr gehörten u.a. sieben Arbeiter, fünf Angestellte, zwei Ingenieure, ein

Rechtsanwalt, zwei Selbständige und ein Kammermusiker der Semperoper Sie hatten enge Verbindung zu der Leipziger Organisation unter Georg Schumann. Deren Vertreter Otto Engert und Georg Boock trafen sich Wilhelm Grothaus in Sierks Wohnung zu einer illegalen Besprechung. Die Dresdner Gruppe hatte Verbindung zu Personen, die in Bautzen Ernst Thälmann bewachten, weshalb den auch Anton Saefkow mindestens einmal nach Dresden kam.

Im Gegensatz zur Leipziger Organisation blieb die Dresdner Gruppe in der DDR weitgehend unbekannt (die Thälmann-Biographie er-

wähnte sie nur mit einem

nichtssagenden Satz). Dies lag ganz offenkundig daran, daß drei Mitgliedern der Gruppe zu Unpersonen geworden waren: Kurt Sindermann, vormals kommunistischer Landtagsabgeordneter in Sachsen, den man fälschlicherweise der Spitzelei für die Gestapo bezichtigte (die hatte ihn aber gerade wegen seiner Weigerung, das zu tun, kurz vor Kriegsende ermordet), Gerhard Ziller, der sich als Wirtschaftssekretär des SED-Zentralkomitees 1957 nach harten Auseinandersetzungen erschossen hatte und Wilhelm Grothaus, der am 17 Juni 1953 auf der Seite der Streikenden stand. Geschichte und Gedenken jedoch lassen sich nun einmal nicht auseinanderdividieren - das gilt auch und gerade heute.

WOLFGANG WELKERLING, Dresden

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