- Brandenburg
- Auf Zeitreise
Acht Frauen sorgten für »Feminat«
Westberliner Abgeordnetenhauswahlen brachten Rot-Grün an die Macht
Mit unserer Serie gehen wir ein Jahr lang immer mittwochs auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt werden eine Rolle spielen. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen. Artikel der Serie könnten manchen reizen, sich zu Wort zu melden, weil er in der Nähe der beschriebenen Orte wohnt oder wohnte, weil ihm diese oder jene eigene Episode wieder eingefallen ist. Meinungen und Hinweise sind willkommen. Wir werden sie in Leserbriefen veröffentlichen.
Sonntag, 29. Januar 1989, war Wahltag in Westberlin. Von 1,5 Millionen Wahlberechtigten nahmen mit 1,2 Millionen immerhin 79 Prozent an dieser demokratischen Grundübung teil. Etwas überraschend fegten sie den CDU/FDP-Senat weg. Die CDU wurde zwar stärkste Partei mit 37,7 Prozent, doch ihr Koalitionspartner FDP sprang mit 3,9 Prozent deutlich am Abgeordnetenhaus vorbei. An der SPD mit 37,3 Prozent lag es nun, entweder eine große Koalition oder einen Versuch mit der Alternativen Liste (AL), die 11,8 Prozent für sich verbuchen konnte, zu wagen.
Die AL, bei der damals neben Wolfgang Wieland und Christian Ströbele auch der heutige PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf zu den Führungsfiguren zählte, wurde vom politischen Establishment als Gefahr angesehen. Politiker wie der nachmalige Innensenator Erich Pätzold wurden vom Verfassungsschutz verfolgt, ein Polizeispitzel mietete eine Wohnung an, in der bei einer Razzia Materialien zur Herstellung eines Sprengsatzes gefunden wurden. Unter den Verhafteten war die Tochter des Kreuzberger Baustadtrats (1981 bis 1989) Werner Orlowsky.
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler schließlich sah in der AL eine linksextreme Gruppierung, die »das Rätesystem in Wirtschaft und öffentliche Verwaltung einführen« wolle und von der sich die SPD zu distanzieren habe. Alice Ströver, 1989 medienpolitische Sprecherin der AL, hatte sich und ihre Mitstreiter gar nicht als eine solche Gefahr wahrgenommen. »Wir waren erstaunt über die heftigen Reaktionen. Die haben uns stärker eingeschätzt als wir uns selbst«, sagt die heutige Kulturpolitikerin der Grünen. Heiß auf die Macht seien die wenigsten gewesen. »Aber wir wollten uns auch der Verantwortung stellen und die Chance, die Rot-Grün bot, ergreifen.«
Maximalforderungen wie die Auflösung des Verfassungsschutzes wurden gestellt, andere, etwa die nach Gleichstellung von Mann und Frau zumindest auf repräsentativer Ebene erfüllt. Acht Frauen - drei von der AL, fünf von der SPD - standen an der Spitze der 13 Senatsverwaltungen und sorgten damit für ein »Feminat« unter dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper. Der Weg dahin war zäh. Die AL-Kandidatinnen wurden damals noch von einer Mitgliederversammlung per Handzeichen bestimmt. Versammlungsort war die »Neue Welt« an der Hasenheide. »Als sich alle Strömungen in der Kandidatinnenfrage blockiert hatten, zogen sich ungefähr 30 Frauen auf die Toilette zurück und handelten die Sache aus«, erinnert sich Alice Ströver.
Sie selbst war damals noch mit der Ausstellung »Aus Nachbarn wurden Juden« beschäftigt, die prompt zum ersten Koalitionsgespräch im Rathaus Schöneberg eröffnet wurde. Die Dokumentation jüdischen Lebens in Berlin wurde auch deshalb zum Zeichen einer neuen Politik, weil bei der Abgeordnetenhauswahl die Republikaner 7,5 Prozent der Wählerstimmen erreichten und ins Parlament einzogen.
An die spontane Protestdemonstration gegen die Republikaner, die noch am Wahlabend stattfand, kann Ströver sich noch gut erinnern. An die eigene Wahlparty hingegen nicht. Politik muss 1989 im Westen Berlins noch viel mit der Straße zu tun gehabt h...
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