Niemand ist wirklich frei, solange es nicht alle sind
Philosophischer Denker, sozialer Kritiker, politischer Mahner - Jürgen Habermas zum 75.
Was zeichnet einen anerkannten Gelehrten aus? Originelle Ideen, verkaufte Bücher, Medienpräsenz, Ehrungen und Anerkennung durch kritische Rezeption in Fachkreisen. Das hat Jürgen Habermas aufzuweisen. Hinzu kamen gute Lehrer, in deren Tradition er weiter arbeitet und deren Ruhm die Würdigung seiner originären Leistungen verstärkt.
Nach dem Studium in Göttingen, Zürich und Bonn promovierte er 1954 bei Erich Rothacker, war freier Journalist und von 1956 bis 1959 Forschungsassistent am von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geleiteten Institut für Sozialforschung in Frankfurt (Main). 1961 habilitierte er sich 1961 bei Wolfgang Abendroth in Marburg, da Horkheimer kritisch zu seinen Arbeiten stand. Nach Professuren für Philosophie in Heidelberg und für Philosophie und Soziologie an der Universität in Frankfurt (Main) sowie Gastprofessuren im Ausland, wirkte er von 1971 bis 1980 als Kodirektor mit Carl Friedrich von Weizsäcker am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, kurz auch als Direktor. Von 1983 bis zur Emeritierung 1994 war er Philosophieprofessor in Frankfurt (Main).
Seine Aktivität ist ungebrochen. Vorträge und Publikationen regen zur Auseinandersetzung an. Seine Ideen werden aufgegriffen und die Bücher verkauft, gelesen und rezensiert. Medien verlangen Stellungnahmen von ihm zu aktuellen Themen. Ehrungen gab es viele, vom Hegel-Preis 1974 bis zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Ehrenpromotionen und Einladungen. Die Aufnahme seiner Gedanken durch Mitglieder der Wissenschaftlergemeinschaft ist ihm sicher, er hat sich als philosophischer Denker, sozialer Kritiker und politischer Mahner durchgesetzt, gilt heute als ein international beachteter und bedeutender deutscher Sozialwissenschaftler.
Einwurf gegen Dutschke - »linker Faschismus«?
Einfach war sein Weg nicht. Er erlebte ungerechtfertigte Kritik, Missachtung von Leistungen, nicht erfüllte Hoffnungen. Habermas erwartete den frühen bundesdeutschen Bruch mit dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus und wurde mehrfach enttäuscht. Eine Veranstaltung Anfang der 50er Jahre verließ er, unter dem Johlen der Teilnehmer, als das Deutschlandlied gesungen wurde und Oberländer sprach. Nachdem er in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erst begeistert zu Heidegger Stellung nahm, publizierte er dort ein Jahr später einen kritischen Kommentar zur Wiederveröffentlichung von Heideggers »Einführung in die Metaphysik« 1953, einem Werk, in dem Wahrheit und Größe der NS-Bewegung unreflektiert benannt wurden. 1986 löste er, mit seiner Kritik an Ernst Noltes Überlegungen, den Historikerstreit um die Verarbeitung der NS-Vergangenheit aus.
Als linker Intellektueller unterstützte Habermas die Studentenproteste von 1967/68 in der BRD. Doch er machte stets auf die Lücke zwischen theoretischer Reflexion und Aktionen aufmerksam, damit der Protest nicht zum Aktionismus verkomme. Habermas vernahm im Reden von Rudolf Dutschke über Aufklärung nur den Ruf nach einem Sitzstreik und warf ihm Voluntarismus vor - den er »linken Faschismus« nannte, was zu erregten Protesten führte.
Habermas ist ein Reformer und kein Revolutionär. Doch er legt den Finger auf theoretische Wunden. So schrieb er Bundeskanzler Brandt 1970, dass es ein Verfall der Perspektive sei, wenn das Thema Eigentum nicht mehr bis zur Kontrolle von wirtschaftlicher Verfügbarkeit geführt werde. Das sei keine marxistische Orthodoxie. Denn: Dem Satz, das gesellschaftliche System der BRD sei auf der bestehenden Eigentumsordnung sozial entwicklungsfähig, widersprächen die Einkommens- und Vermögensverteilung ebenso wie die Tendenzen zur unkontrollierten wirtschaftlichen Verfügungsgewalt.
Leicht zu lesen und zu verstehen sind seine Texte nicht. Geschult an Kant und Heidegger, an Marx, Freud und den Vertretern des Pragmatismus, mit der Aufnahme hermeneutischer Ideen, entwickelte Habermas die Kritische Theorie der Frankfurter Schule von Horkheimer und Adorno weiter. Er teilte die mit deren »Dialektik der Aufklärung« verbundene politische Resignation nicht. Vernunftkritik dürfe die Rolle der Vernunft für das kommunikative Handeln, zentrales Thema seiner Arbeiten, nicht negieren.
Kritisch steht Habermas zum Kapitalismus. »Niemand ist frei, solange es nicht alle sind.« Das könnte marxistisch als Forderung verstanden werden, eine Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten zu erreichen, in der die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit Aller ist.
Vernunftkritik darf Vernunft nicht negieren
Doch ähnliche Wörter drücken oft verschiedene Inhalte aus. 1985 mahnte Habermas den Sozialismus, emanzipierte Lebensformen zu entwickeln. Jetzt sieht er »nach dem fehlgeschlagenen sowjetkommunistischen Experiment, keine vernünftige Exit-Option mehr. Veränderungen des globalen Kapitalismus, die über den Dauerzustand einer sich selbst beschleunigenden "schöpferischen Zerstörung" hinausführen, scheinen nur noch von innen möglich zu sein«. Der Kapitalismus ist nun zu reformieren und demokratisch zu kontrollieren.
Was will Habermas? Eine herrschaftsfreie Gesellschaft oder wie er vor einiger Zeit schrieb: Eine Weltinnenpolitik ohne Weltregierung, die über ein politisch handlungsfähiges Europa erreicht werden kann. Ihn stört das Fehlen einer neuen Perspektive, denn in der Politik bewege sich nichts ohne ein Thema, an dem sich die Geister scheiden.
Um die Perspektive zu bestimmen, bedürfe es der Analyse, mit der Probleme klarer definiert und Ziele erkannt werden. So sei der Handlungsspielraum nationaler Regierungen zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit geschrumpft, denn der Staat könne die Steuerressourcen der einheimischen Wirtschaft immer weniger effektiv ausschöpfen, und die bekannten Instrumente zur Makrosteuerung der Wirtschaft versagen, da sie immer weniger Volkswirtschaft sei.
Deshalb seien die nationalstaatlichen politischen Akteure in der postnationalen Konstellation durch andere handlungsfähigere Akteure zu ergänzen. Er setzt auf die gestaltende Kraft einer Politik, die den davongelaufenen Märkten auf supranationaler Ebene nachwächst. Als Weg und Ziel sieht Habermas die Entwicklung von Demokratie, Recht und Freiheit. Erreicht werden soll sie durch einen herrschaftsfreien Diskurs, der die Spielregeln der Demokratie selbst und alle Rechts- und Moralnormen zur Diskussion stellt.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen scheint immer wieder das Ideal des abstrakten vernünftigen Menschen in seinen Arbeiten durch, das Kant zur Grundlage seines kategorischen Imperativs gemacht hatte - als er forderte, so zu handeln, dass die Maxime des Willens stets als allgemeines Gesetz gelten könne. Die ideale Sprechsituation ermöglicht es nach Habermas, fair und unparteilich Verhaltensnormen zu entwickeln. Die Bedingungen dafür sind: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, letzten Endes die Vernünftigkeit. Im Diskurs sollen Regeln aufgestellt werden, die dann zu befolgen sind.
Es gibt viele kritische Stimmen zum Habermasschen Universalismus. Beachtung gemeinschaftlicher Werte, statt der Betonung des reinen Verfahrensprinzips, wird gefordert. John Rawls sucht eine Gerechtigkeitskonzeption, der alle Angehörigen einer Kultur zustimmen können, während Habermas die ständige Prüfung aller Normen fordert. Lyotard betont die Existenz verschiedener Diskursarten, die im Widerstreit zueinander stehen können, während Habermas ein einheitliches Regelsystem für alle Diskurse angibt.
Habermas geht auf seine Kritiker ein, ohne seine universalistische Position zu verlassen. Er will keine inhaltlichen oder materialen Bedingungen für den Diskurs stellen, sondern alles in ihm klären. Doch das ist problematisch.
Erstens kann sich die Menschheit selbst vernichten oder ihre Lebensgrundlagen zerstören. Angestrebte Diskurse brauchen Ziele. Voraussetzung für die Emanzipation ist der Übergang der Menschheit von einer Katastrophengemeinschaft, die sich mit den Folgen eingetretener Natur-, Kriegs- und sozialer Katastrophen befasst, zur Verantwortungsgemeinschaft, die der Erhaltung der menschlichen Gattung, ihrer natürlichen Lebensbedingungen, dem Frieden und dem Freiheitsgewinn des Einzelnen durch Gestaltung einer höheren Lebensqualität verpflichtet ist.
Ohne Toleranz gibt es keine Evolution
Zweitens gibt es keine abstrakten vernünftigen Individuen, die allein den Diskurs führen. Menschen sind Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse in individueller Ausprägung. Sie sind Vernunft-, Gestaltungs- und Genusswesen, die sich die Wirklichkeit aneignen. Wo beginnt der normale Mensch und wo hört er auf? Wir können von einer Normalverteilung menschlicher Verhaltensweisen ausgehen, die die ganze Breite vom kriminellen Neid bis zur solidarischen Liebe umfassen, wobei die gesellschaftlichen Verhältnisse die Verteilung determinieren. Ohne Toleranz zwischen den reformerischen, das heißt auf Veränderung drängenden, und konservativen, also den Erhalt des Status quo anstrebenden, Kräften, gibt es keine Evolution und Stabilität sozialer Systeme.
Differenz zwischen Theorie und Ereignis
Drittens kann das von Habermas gewollte Fernziel, »die soziale Spaltung und Stratifikation der Weltgesellschaft ohne Beeinträchtigung der kulturellen Eigenart schrittweise zu überwinden«, nur erreicht werden, wenn wir das Ziel einer Weltkultur als Ergänzung zur Weltzivilisation anstreben. Eine Weltkultur, die sich durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung herausbildet. Die Konsenspunkte, wie die der Erhaltung des Menschengeschlechts, des Friedens und des Freiheitsgewinns, enthält und so die humanen Rahmenbedingungen schafft, unter denen soziokulturelle Identitäten ihre Eigenheiten entfalten können.
Viertens gibt es Humankriterien, die den Freiheitsgewinn des Einzelnen im sozialen System anzeigen, zu denen die Garantie einer sinnvollen Beschäftigung, einer persönlichkeitsfördernden Kommunikation, der Befriedigung materieller und kultureller Grundbedürfnisse, der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und die Integration sozial Schwacher und Behinderter gehört, gerichtet gegen jede Ausgrenzung rassistischer, sexistischer, weltanschaulicher, religiöser Art.
Philosophie und Sozialkritik liefern keinen abarbeitbaren Algorithmus für menschliche Entscheidungen. Jeder ist seinem Gewissen, dem persönlichen Verantwortungsbewusstsein verpflichtet, das humanen Zielen folgen sollte. So versucht Habermas zwar, alles auf seine Grundthesen des herrschaftsfreien Diskurses, des kommunikativen Handelns, des von den Erkenntnisinteressen bestimmten wissenschaftlich-technischen Handelns, sozialer Gestaltung und Emanzipation zurückzuführen. Doch bleibt die Differenz zwischen Theorie und Ereignis.
1999 rechtfertigte er den Kosovo-Krieg mit dem Übergang vom klassischen Völkerrecht zu einem weltbürgerlichen Zustand, in dem die Menschenrechte entscheidend sind. 2003 kritisierten er und sein französischer Kollege Jaques Derrida die Irak-Politik der USA und forderten eine neue Außenpolitik Europas. »Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten, dialogfähigen Europas vor.« Sie meinten: »Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.« So kann man mit der Haltung eines Weltbürgers, mit Kapitalismuskritik und der Forderung nach Emanzipation einen Krieg befürworten und den anderen ablehnen.
Hoffen wir weiter auf Anregungen vom sozialkritischen Denker, auf Appelle an die Vernunft der Menschen, sich für Frieden, Humanität und Freiheit einzusetzen.
Herbert Hörz, ehemals Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR und heute Präsident der Leibniz-Sozietät, hat unter anderem und insbesondere zu Heisenberg und Helmholtz geforscht und war Mitveranstalter der Kühlungsborner Tagungsreihe zu philosophischen Problemen der Natur-, Technik- und mathematischen Wissenschaften. Derzeit befasst sich der Berliner Philosophieprofessor intensiv mit der Forderung nach einer neuen Aufklärung in der Neomoderne, die Erg...
Nach dem Studium in Göttingen, Zürich und Bonn promovierte er 1954 bei Erich Rothacker, war freier Journalist und von 1956 bis 1959 Forschungsassistent am von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geleiteten Institut für Sozialforschung in Frankfurt (Main). 1961 habilitierte er sich 1961 bei Wolfgang Abendroth in Marburg, da Horkheimer kritisch zu seinen Arbeiten stand. Nach Professuren für Philosophie in Heidelberg und für Philosophie und Soziologie an der Universität in Frankfurt (Main) sowie Gastprofessuren im Ausland, wirkte er von 1971 bis 1980 als Kodirektor mit Carl Friedrich von Weizsäcker am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, kurz auch als Direktor. Von 1983 bis zur Emeritierung 1994 war er Philosophieprofessor in Frankfurt (Main).
Seine Aktivität ist ungebrochen. Vorträge und Publikationen regen zur Auseinandersetzung an. Seine Ideen werden aufgegriffen und die Bücher verkauft, gelesen und rezensiert. Medien verlangen Stellungnahmen von ihm zu aktuellen Themen. Ehrungen gab es viele, vom Hegel-Preis 1974 bis zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Ehrenpromotionen und Einladungen. Die Aufnahme seiner Gedanken durch Mitglieder der Wissenschaftlergemeinschaft ist ihm sicher, er hat sich als philosophischer Denker, sozialer Kritiker und politischer Mahner durchgesetzt, gilt heute als ein international beachteter und bedeutender deutscher Sozialwissenschaftler.
Einwurf gegen Dutschke - »linker Faschismus«?
Einfach war sein Weg nicht. Er erlebte ungerechtfertigte Kritik, Missachtung von Leistungen, nicht erfüllte Hoffnungen. Habermas erwartete den frühen bundesdeutschen Bruch mit dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus und wurde mehrfach enttäuscht. Eine Veranstaltung Anfang der 50er Jahre verließ er, unter dem Johlen der Teilnehmer, als das Deutschlandlied gesungen wurde und Oberländer sprach. Nachdem er in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erst begeistert zu Heidegger Stellung nahm, publizierte er dort ein Jahr später einen kritischen Kommentar zur Wiederveröffentlichung von Heideggers »Einführung in die Metaphysik« 1953, einem Werk, in dem Wahrheit und Größe der NS-Bewegung unreflektiert benannt wurden. 1986 löste er, mit seiner Kritik an Ernst Noltes Überlegungen, den Historikerstreit um die Verarbeitung der NS-Vergangenheit aus.
Als linker Intellektueller unterstützte Habermas die Studentenproteste von 1967/68 in der BRD. Doch er machte stets auf die Lücke zwischen theoretischer Reflexion und Aktionen aufmerksam, damit der Protest nicht zum Aktionismus verkomme. Habermas vernahm im Reden von Rudolf Dutschke über Aufklärung nur den Ruf nach einem Sitzstreik und warf ihm Voluntarismus vor - den er »linken Faschismus« nannte, was zu erregten Protesten führte.
Habermas ist ein Reformer und kein Revolutionär. Doch er legt den Finger auf theoretische Wunden. So schrieb er Bundeskanzler Brandt 1970, dass es ein Verfall der Perspektive sei, wenn das Thema Eigentum nicht mehr bis zur Kontrolle von wirtschaftlicher Verfügbarkeit geführt werde. Das sei keine marxistische Orthodoxie. Denn: Dem Satz, das gesellschaftliche System der BRD sei auf der bestehenden Eigentumsordnung sozial entwicklungsfähig, widersprächen die Einkommens- und Vermögensverteilung ebenso wie die Tendenzen zur unkontrollierten wirtschaftlichen Verfügungsgewalt.
Leicht zu lesen und zu verstehen sind seine Texte nicht. Geschult an Kant und Heidegger, an Marx, Freud und den Vertretern des Pragmatismus, mit der Aufnahme hermeneutischer Ideen, entwickelte Habermas die Kritische Theorie der Frankfurter Schule von Horkheimer und Adorno weiter. Er teilte die mit deren »Dialektik der Aufklärung« verbundene politische Resignation nicht. Vernunftkritik dürfe die Rolle der Vernunft für das kommunikative Handeln, zentrales Thema seiner Arbeiten, nicht negieren.
Kritisch steht Habermas zum Kapitalismus. »Niemand ist frei, solange es nicht alle sind.« Das könnte marxistisch als Forderung verstanden werden, eine Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten zu erreichen, in der die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit Aller ist.
Vernunftkritik darf Vernunft nicht negieren
Doch ähnliche Wörter drücken oft verschiedene Inhalte aus. 1985 mahnte Habermas den Sozialismus, emanzipierte Lebensformen zu entwickeln. Jetzt sieht er »nach dem fehlgeschlagenen sowjetkommunistischen Experiment, keine vernünftige Exit-Option mehr. Veränderungen des globalen Kapitalismus, die über den Dauerzustand einer sich selbst beschleunigenden "schöpferischen Zerstörung" hinausführen, scheinen nur noch von innen möglich zu sein«. Der Kapitalismus ist nun zu reformieren und demokratisch zu kontrollieren.
Was will Habermas? Eine herrschaftsfreie Gesellschaft oder wie er vor einiger Zeit schrieb: Eine Weltinnenpolitik ohne Weltregierung, die über ein politisch handlungsfähiges Europa erreicht werden kann. Ihn stört das Fehlen einer neuen Perspektive, denn in der Politik bewege sich nichts ohne ein Thema, an dem sich die Geister scheiden.
Um die Perspektive zu bestimmen, bedürfe es der Analyse, mit der Probleme klarer definiert und Ziele erkannt werden. So sei der Handlungsspielraum nationaler Regierungen zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit geschrumpft, denn der Staat könne die Steuerressourcen der einheimischen Wirtschaft immer weniger effektiv ausschöpfen, und die bekannten Instrumente zur Makrosteuerung der Wirtschaft versagen, da sie immer weniger Volkswirtschaft sei.
Deshalb seien die nationalstaatlichen politischen Akteure in der postnationalen Konstellation durch andere handlungsfähigere Akteure zu ergänzen. Er setzt auf die gestaltende Kraft einer Politik, die den davongelaufenen Märkten auf supranationaler Ebene nachwächst. Als Weg und Ziel sieht Habermas die Entwicklung von Demokratie, Recht und Freiheit. Erreicht werden soll sie durch einen herrschaftsfreien Diskurs, der die Spielregeln der Demokratie selbst und alle Rechts- und Moralnormen zur Diskussion stellt.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen scheint immer wieder das Ideal des abstrakten vernünftigen Menschen in seinen Arbeiten durch, das Kant zur Grundlage seines kategorischen Imperativs gemacht hatte - als er forderte, so zu handeln, dass die Maxime des Willens stets als allgemeines Gesetz gelten könne. Die ideale Sprechsituation ermöglicht es nach Habermas, fair und unparteilich Verhaltensnormen zu entwickeln. Die Bedingungen dafür sind: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, letzten Endes die Vernünftigkeit. Im Diskurs sollen Regeln aufgestellt werden, die dann zu befolgen sind.
Es gibt viele kritische Stimmen zum Habermasschen Universalismus. Beachtung gemeinschaftlicher Werte, statt der Betonung des reinen Verfahrensprinzips, wird gefordert. John Rawls sucht eine Gerechtigkeitskonzeption, der alle Angehörigen einer Kultur zustimmen können, während Habermas die ständige Prüfung aller Normen fordert. Lyotard betont die Existenz verschiedener Diskursarten, die im Widerstreit zueinander stehen können, während Habermas ein einheitliches Regelsystem für alle Diskurse angibt.
Habermas geht auf seine Kritiker ein, ohne seine universalistische Position zu verlassen. Er will keine inhaltlichen oder materialen Bedingungen für den Diskurs stellen, sondern alles in ihm klären. Doch das ist problematisch.
Erstens kann sich die Menschheit selbst vernichten oder ihre Lebensgrundlagen zerstören. Angestrebte Diskurse brauchen Ziele. Voraussetzung für die Emanzipation ist der Übergang der Menschheit von einer Katastrophengemeinschaft, die sich mit den Folgen eingetretener Natur-, Kriegs- und sozialer Katastrophen befasst, zur Verantwortungsgemeinschaft, die der Erhaltung der menschlichen Gattung, ihrer natürlichen Lebensbedingungen, dem Frieden und dem Freiheitsgewinn des Einzelnen durch Gestaltung einer höheren Lebensqualität verpflichtet ist.
Ohne Toleranz gibt es keine Evolution
Zweitens gibt es keine abstrakten vernünftigen Individuen, die allein den Diskurs führen. Menschen sind Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse in individueller Ausprägung. Sie sind Vernunft-, Gestaltungs- und Genusswesen, die sich die Wirklichkeit aneignen. Wo beginnt der normale Mensch und wo hört er auf? Wir können von einer Normalverteilung menschlicher Verhaltensweisen ausgehen, die die ganze Breite vom kriminellen Neid bis zur solidarischen Liebe umfassen, wobei die gesellschaftlichen Verhältnisse die Verteilung determinieren. Ohne Toleranz zwischen den reformerischen, das heißt auf Veränderung drängenden, und konservativen, also den Erhalt des Status quo anstrebenden, Kräften, gibt es keine Evolution und Stabilität sozialer Systeme.
Differenz zwischen Theorie und Ereignis
Drittens kann das von Habermas gewollte Fernziel, »die soziale Spaltung und Stratifikation der Weltgesellschaft ohne Beeinträchtigung der kulturellen Eigenart schrittweise zu überwinden«, nur erreicht werden, wenn wir das Ziel einer Weltkultur als Ergänzung zur Weltzivilisation anstreben. Eine Weltkultur, die sich durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung herausbildet. Die Konsenspunkte, wie die der Erhaltung des Menschengeschlechts, des Friedens und des Freiheitsgewinns, enthält und so die humanen Rahmenbedingungen schafft, unter denen soziokulturelle Identitäten ihre Eigenheiten entfalten können.
Viertens gibt es Humankriterien, die den Freiheitsgewinn des Einzelnen im sozialen System anzeigen, zu denen die Garantie einer sinnvollen Beschäftigung, einer persönlichkeitsfördernden Kommunikation, der Befriedigung materieller und kultureller Grundbedürfnisse, der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und die Integration sozial Schwacher und Behinderter gehört, gerichtet gegen jede Ausgrenzung rassistischer, sexistischer, weltanschaulicher, religiöser Art.
Philosophie und Sozialkritik liefern keinen abarbeitbaren Algorithmus für menschliche Entscheidungen. Jeder ist seinem Gewissen, dem persönlichen Verantwortungsbewusstsein verpflichtet, das humanen Zielen folgen sollte. So versucht Habermas zwar, alles auf seine Grundthesen des herrschaftsfreien Diskurses, des kommunikativen Handelns, des von den Erkenntnisinteressen bestimmten wissenschaftlich-technischen Handelns, sozialer Gestaltung und Emanzipation zurückzuführen. Doch bleibt die Differenz zwischen Theorie und Ereignis.
1999 rechtfertigte er den Kosovo-Krieg mit dem Übergang vom klassischen Völkerrecht zu einem weltbürgerlichen Zustand, in dem die Menschenrechte entscheidend sind. 2003 kritisierten er und sein französischer Kollege Jaques Derrida die Irak-Politik der USA und forderten eine neue Außenpolitik Europas. »Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten, dialogfähigen Europas vor.« Sie meinten: »Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.« So kann man mit der Haltung eines Weltbürgers, mit Kapitalismuskritik und der Forderung nach Emanzipation einen Krieg befürworten und den anderen ablehnen.
Hoffen wir weiter auf Anregungen vom sozialkritischen Denker, auf Appelle an die Vernunft der Menschen, sich für Frieden, Humanität und Freiheit einzusetzen.
Herbert Hörz, ehemals Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR und heute Präsident der Leibniz-Sozietät, hat unter anderem und insbesondere zu Heisenberg und Helmholtz geforscht und war Mitveranstalter der Kühlungsborner Tagungsreihe zu philosophischen Problemen der Natur-, Technik- und mathematischen Wissenschaften. Derzeit befasst sich der Berliner Philosophieprofessor intensiv mit der Forderung nach einer neuen Aufklärung in der Neomoderne, die Erg...
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