Gelassenheit
Krisen sind keine persönliche Kränkung
Wer wäre nicht gerne gelassen in diesen Zeiten von Aufgeregtheit, Angst, gar Panik? Allein, dass es einen Begriff wie »Gelassenheit« überhaupt gibt, ist ein Trost. Im Klang dieses Wortes kann man sich getrost niederlassen.
Aber was meinen wir mit Gelassenheit? Sicher nicht Gleichgültigkeit, ein abgestumpftes Gemüt, ein gleichgültiges Unberührtsein, sondern die ruhige Haltung eines Menschen; ruhig, weil er in sich ruht, und aus dieser Ruhe heraus sich immer wieder neu mit der Beunruhigung in sich und in der Welt auseinander setzen kann.
Die Gelassenheit ist eine Haltung, die von gewissen Menschen schon immer angestrebt wurde, deshalb ist sie auch ein Thema der Geistesgeschichte.
Aus der Stoa kennen wir die »stoische Gelassenheit«. Diese galt als Lebenskunst. Gemeint war damit eine Unerschütterlichkeit des Gemüts, eine ungestörte Seelenruhe, mit der man das Schicksal ruhig annehmen kann. Epikur meinte, man erreiche diese Unerschütterlichkeit dadurch, dass man das richtige Maß im Umgang mit sich selbst findet, aber auch, indem man sich vom Getriebe der Welt fern hält.
Diese Gelassenheit aber, so Seneca, ein Vertreter der mittleren Stoa, kann man nur erreichen, wenn eine innere Festigkeit erlangt ist. Er betont denn auch, dass es wichtig sei, sich aus sich selbst heraus freuen zu können. »All die anderen fröhlichen Anlässe füllen das Herz nicht, sie glätten nur die Stirn und sind flüchtiger Natur.« Auch ist bei ihm der Gedanke, dass der Rückzug von der Welt nötig sei, um gelassen bleiben zu können, nicht mehr ausgeprägt: »Das höchste Gut ist eine unüberwindliche Kraft der Seele, voll Einsicht, ruhig im Handeln, dabei reich an Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen wir leben.«
Aus dem Christentum kennen wir die »christliche Gelassenheit«. Diese wird dadurch möglich, dass der Christ Gott in sich wirken lässt, den eigenen Willen aufgibt, sich leer macht für Gott und in der Folge in Gottergebenheit lebt, darauf wartend, dass Gott im Menschen und im Leben wirke.
Nietzsche spricht von einer »stolzen Gelassenheit«. Diese entsteht dadurch, dass man immer auch »jenseits« lebt. Affekte soll man haben, aber auch nicht haben, sich auf sie »herablassen«, für Stunden, sie nutzen, um sie dann auch wieder loszulassen. Diese »stolze Gelassenheit« entsteht auch auf das eigene Leben, auf die Welt. Vorurteile können so erkannt und verändert werden. Dadurch gewinnt man Freiheit.
Heidegger sprach von einer »Gelassenheit zu den Dingen«, dies im Zusammenhang mit Überlegungen zur Technik. Gelassen soll man warten, ohne etwas Bestimmtes zu erwarten. Dann öffne sich das Geheimnis dem Nachdenken. Heideggers große Sorge war, dass die Entwicklung der Technik dazu führen könnte, den Menschen um sein Nachdenken zu bringen, sodass der Mensch damit das verlieren würde, was ihn auszeichnet: ein nachdenkendes Wesen zu sein. Erst das Nachdenken, und das ist nicht ohne Gelassenheit möglich, eröffnet eine Freiheit zu den Dingen, auch zum Gebrauch der Technik.
Für uns Heutige enthält der Begriff der Gelassenheit etwas von all den erwähnten Aspekten.
Gelassenheit verstehen wir als eine Haltung im Umgang mit uns selbst und mit der Welt. Und sie ermöglicht uns Freiheit. Auch heute noch gehört sie zur Lebenskunst.
Um gelassen zu sein, braucht es den wachen Blick von außen, auf uns selbst, auf die Welt, in der wir leben. Es braucht sowohl die Distanz als auch die Einfühlung. Die Distanz ermöglicht das Wissen um Grenzen, um die eigenen, um die der anderen; die Einfühlung bewirkt, dass wir wissen, worum es uns und den anderen auch emotional geht. Erst durch Distanz und Einfühlung ist eine Reflexivität möglich, die es uns erlaubt, jeweils auch anderes zu denken als das, was sich in der Panik aufdrängt.
Um gelassen sein zu können, braucht es Vertrauen auf eine innere Kraft, auf Seelenfestigkeit. Dann kann man auch warten: Das Warten schafft Raum, für anderes, für das Zusammenwirken mit anderen, für das Nachdenken, auch für das gemeinsame Nachdenken. Besonnen kann man den guten Moment zum Handeln erfassen, wenn man das richtige Maß im Engagement behält.
Um Gelassenheit muss man sich bemühen. Wir sind manchmal gelassen, manchmal aufgeregt, manchmal indifferent. Das Ziel wäre, immer mehr gelassen zu werden im Laufe des Lebens. Dadurch, dass wir das Gelassensein immer wieder üben, kann die Gelassenheit immer mehr zu einer steten Haltung werden. Auch wenn wir gelassener sind: Die Bedrohungen bleiben, die Widrigkeiten bleiben, wir können sie aber auf Distanz halten. Gelassen erwartet man sie und hat einen Abstand dazu, sie können uns nicht überraschen, und deshalb können wir besser damit umgehen.
Die Gelassenheit entsteht auf der Folie der Aufgeregtheit, der Angst, des Ärgers. In Zeiten von Krisen kommt uns jedoch die Gelassenheit leicht abhanden.
Um mit Angst und Krisen gelassen umgehen zu können, braucht es eine bestimmte Einstellung zum Leben, die ich hier kurz benenne.
1. Krisen und Angst sind unvermeidbar, also ein normales Vorkommnis. Krisen sind keine Strafen des Schicksals, keine persönliche Beleidigung - sie gehören zum Leben. Mit Krisen und Angst ist immer einmal zu rechnen, und sie können ausgesprochen sinnvoll sein. Die Angst als eine Emotion, die uns zeigt, dass wir von einer Gefahr ergriffen sind, aber auch in Gefahr sind, etwas für uns ganz Wesentliches in unserem Leben zu verpassen. Die Krise als die Situation der möglichen Umstrukturierung, bei der dieses Wesentliche ins Leben integriert wird - oder verpasst.
2. Wir nehmen uns meistens zu wichtig. Leben wir zu sehr in einer großen Selbstbezogenheit - eine Folge davon, dass wir nicht mehr das Schicksal für vieles verantwortlich machen, sondern unseres eigenen Glückes Schmied sind -, nehmen wir besonders Krisen zu persönlich: Sie werden dann zu einer persönlichen Kränkung. Wir fühlen uns aber deshalb auch verpflichtet, sie allein und rasch zu lösen, mitunter bevor wir sie verstanden haben, fallen in Aktionismus und vergessen, dass es auch eine Dynamik der Selbstregulierung im Leben gibt. Andere Menschen haben auch gute Ideen. Manchmal ergibt das Zusammenspiel von Ideen ganz erstaunliche Lösungen. Die Haltung des Märchenhelden oder der -heldin wäre angebracht: tun, was in der eigenen Kraft liegt, und dann auf hilfreiche Kräfte vertrauen.
3. Um gelassen zu sein, muss man den Tod akzeptieren. Wir nehmen uns auch wichtig, indem wir unserem individuellen Leben eine sehr große Bedeutung zuschreiben. Natürlich sind wir alle einmalig, aber wir sind auch Vorübergehende im Strom des Lebens. Vor uns waren Menschen, nach uns kommen Menschen, alle Lebensträger und Lebensträgerinnen, wie wir auch. Nehmen wir ernst, dass wir sterben müssen, dann muss das Leben angesichts des Todes abschiedlich gelebt werden: Wir müssen immer bereit sein, Abschied zu nehmen, uns der Angst zu stellen, uns zu verändern, uns neu einzulassen. Wenn Abschiedlichkeit einem Leben, das den Tod akzeptiert, angemessen ist, muss sie ergänzt werden durch Offenheit für alles, was das Leben an einen heranträgt, auch Offenheit für Unvorhersehbares, und durch Verantwortlichkeit für das, was gerade ist, durch Engagement, durch das sich Einlassen auf das, was uns wichtig ist.
Das Denken an den Tod und dabei intensiv zu leben, gehört zur Lebenskunst. Leugnen wir den Tod, dann geraten wir in eine übertriebene Selbstbezogenheit, die uns so aufgeregt reagieren lässt, wenn Widriges allzu stark auf uns eindringt. Das Denken an die Abschiedlichkeit der Existenz mag uns melancholisch stimmen, aber aus der Melancholie heraus entsteht die Gelassenheit. Dass alles vergänglich ist im Leben, ist das sicher Bleibende, darauf kann man vertrauen. Und wenn es denn so ist, können wir uns auch wieder einlassen, unseren Interessen nachgehen, spüren, dass es etwas gibt in unserem Leben, das uns mit Lebendigkeit erfüllt, dass anderes Denken Raum hat, und auch loslassen. Man kann sich gelassen dem Fluss des Lebens überlassen.
Prof. Dr. Verena Kast, Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie, lebt in St. Gallen. Von ihr sind an die 50 Bücher lieferbar, darunter »Abschied von der Opferrolle«, »Lebenskrisen werden Lebenschancen«, »Märchen als Therapie«. Sie gehört zu den namhaften Autorinnen und Autoren des Bandes »Gelassenheit. Vom Umgang mit Angst und Krisen«, der, herausgegeben von Christiane Neuen, Mitte Juli bei Walte...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.