»herzwillige streifzüge«

Heute wird der Lyriker Wulf Kirsten 70

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Vielleicht ist, was der Dichter Rudolph Borchardt vor Jahrzehnten formulierte, so ziemlich die höchste Anforderung an Lyrik: Man dürfe ein Gedicht nur dann veröffentlichen, wenn man der Meinung sei, es wäre auch in zehn Jahren noch zu früh für eine Publikation. Ein Satz, der die stolze Autonomie eines Gedichts anspricht, seinen kristallinen Eigenwert, der nichts Vorläufiges mehr hat, der für sich steht - und stehen bleibt, wenn die Zeit vorüberhastet. Wenn wir vorüberhasten. Ein gutes Gedicht bleibt immer bei sich. Denn seine Leser sind nicht Vorpreschende, sondern glücklich erschreckte Rückkehrende. Wieder Ankommende; aus so viel Ausführlichem, das uns allstündlich anbellt, anspringt, kommen sie sehnsuchtsvoll zurück ins Vielsagende, Genauer: an den »Satzanfang«, wie der erste Lyrikband Wulf Kirstens hieß. Dorthin, wo erfahrbar wird, was das ist - Poesie: »die trauer aller dinge, auch/ wenn sie gar kein gesicht haben,/ aus dem zu lesen wäre, die aber tot/ sind und leben und wie verrückt/ anfangen zu leben, in jeder zeile/ sich forttragen ...« Freilich: Ein Gedicht entsteht nicht wegen uns, es hat keinen Adressaten, es wendet sich so wenig an Leser wie eine Rose blüht, um zu duften. Aber so wie man vor dem Duft der Rose kapituliert, so liest man Gedichte einzig aus dem Grunde, ebenfalls zu kapitulieren. Gedichte machen klanglich untertan, eine andere Existenz pflanzt ihr Banner in unser Bewusstsein. Wir verharren im Zustand der Huldigung, weil im Gedicht etwas zu Klang kommt, das uns selber fehlt. Raum etwa. Raum fehlt uns immer. Spiel-Raum. Welt-Raum. Wulf Kirstens Gedichte sind Raum-Gedichte. »ich - auf der erde bei meißen«. Erst war da nur der Mensch in der Landschaft. Der sich umsieht. Der die Sprache der Dörfler betrachtet, neugierig, staunend, so wie man die Unterseite von Baum-und-Busch-Blättern beschaut. Ein Sammler von Sprache, die auf Feldern wächst, an Wegrändern, im Scheunenstaub, »im mittagsschlaf des dorfes«. Die Rede ging in dieser Lyrik von »schneidkluppe« und »schieferzwiebel«, von »schaftheu« und »mühlrechen«, von »fladern«, »rajohlen« und »ortscheit« - kein Wunder, dass Kirsten eines Tages Mitarbeiter beim »Wörterbuch der obersächsichen Mundarten« wird. Seine Gedichte nehmen die »werktagsgeduld« der Menschen ernst, all das, was »belebend belanglos« ist; »einer dynastie von feldbestellern/ ohne resonanznamen« will er inständig »aus wortfiguren standbilder setzen«. Dichters Auftrag: Des elbischen Lands »rauhe, rissige, erde/ nehm ich ins wort«. So heißt es in besagtem »Satzanfang«, einem Band im Aufbau Verlag (1970), Gedichte für ganze sechs Mark neunzig; den Umschlag bildet ein blau-gelb-weißes, kräftig bräunlich getöntes Winterdorf-Aquarell vom Bauern-Maler Curt Querner, eine Landschaft, die wahrscheinlich schon auf den März zugeht, und auch das Dichter-Foto auf der hinteren Umschlagseite zeigt einen Mann im Winter, »auf unwirtlichen flächen/ wildert der frost,/ schlägt sich ins holz, ins fleisch«. Irgendwann dann wird das Kirsten-Gedicht selber zum Raum, es entwickelt aus Naturbetrachtung eine mehr und mehr eigene Natur. Betretbar, auf eigene Gefahr: Im Leser selbst weitet sich etwas. Wenn er die Mühe von Wortklippen und gewissermaßen steiler Sprache nicht scheut. Eine Wort-Landschaft, nach wie vor so, als hätte sie Querner gemalt, der viel ältere Freund. Ein inständiger Kunst-Raum, nicht mehr so ungebrochen heiter, nicht mehr so hymnisch ungebrochen. Fast schien es ja, dass etwa die Beschreibung des Dorfes Kyleb - das Abschluss-Gedicht im »satzanfang« - den Volker-Braun-Ton jener Jahre aufnahm. »Kommt uns nicht mit Fertigem!«, hatte der Sachse Braun sozialismusfreudig und generationsbewusst ausgerufen, und beim Sachsen Kirsten lautete die Entsprechung: »mein altes Kyleb, komm mir nicht länger/ mit greisenallüren,/ gestützt auf krücken! //he, du mein stilles Kyleb,/ schnell und laut/ kommt ins altväterliche dorf/ das neue jahrtausend./ hinter dem mond -/ gilt nicht mehr.« Es gibt eine Naivität, einen guten Willen, der wirkt auch nach Jahren nicht anstößig. Es ist seltsam: Das Stakkato, die Kaskaden, der Fluss der Wörter - alle kleingeschrieben, ein jedes von gleicher Würde und gleichem Anspruch und stolzer Knorrigkeit - hat etwas »Reportierendes«; lauter Realien sind bei Kirsten überbordend aufgehäuft, alles Wahrgenommene bildet dem Dichter einen Reiz, es gleichsam in einer Partitur zu registrieren. So viel konkrete Welt! Und doch scheint der Vers so oft probiert worden zu sein, bis das, was mehr der Wirklichkeit als dem Dichter gehört, weggelassen werden konnte. Und doch nicht verschwindet! Dieser Dichter - beeinflusst von Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Theodor Kramer - baut regionale Sprache zu faszinierenden Klangflächen; er adelt die Provinz, indem er sie feiert. Freilich, bis auf das, was in Gedichten wie »Kyleb« mitschwang: Nichts angekauft Pathetisches. Nichts von »flügelschlag der Geschichte erdenthoben«. Aus dem sozial niederen Lebensstoff wird nicht angestrengt und klassenfroh das Neue herausgeschlagen, nein, das sperrige Kleine, das banal Vorhandene, »um redensarten nie verlegen«, ist und bleibt der einzige Stoff für jedwede große Vision. Die am Ende aller Tage immer nur darin bestehen kann, vor sich selbst zu bestehen. Und sich als Dichter nicht der Wahrheit in den Weg zu stellen, die durch den Körper hindurch ins Gedicht will. Kirsten wird 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren. Der Steinmetzsohn ist Handelskaufmann, Buchhalter, Bauarbeiter. Er studiert in Leipzig Pädagogik, arbeitet als Lehrer und Lektor. Seit Jahrzehnten ein Weimaraner. »Der Bleibaum«, »ich - die erde bei meißen«, »Stimmenschotter«, »Wettersturz« - so heißen weitere seiner Gedichtbände. Ein Häusler, der zum Dichter wurde. Zum Oden-Sänger der Beiseitesteher. Der Langsamgeher. Der schweigsamen Nachhinker. Kirstens Mensch ist der Habenichts, »freiweg/ zur ader gelassen, grundanständig,/ wenn auch bodenlos«. Der Ammann-Verlag Zürich, wo Kirstens Verse seit einiger Zeit erscheinen, hat jetzt einen wunderschönen Sammelband herausgegeben, der ansehnlich umfangreich ist und in seiner huldvollen Schwere gediegen in der Hand liegt (man muss ja auch für das Gewicht eines Buches ein verlegerisches Gefühl haben). In diesem Band kann man noch einmal die berührenden, tieftraurigen Porträtgedichte lesen. Kleist: »welch ein schmerz, die welt in so ungeheurer ordnung/ zu erblicken!« Grabbe: »in trister hinterstube eingespundet.« Johann Christian Günther: »das ist die welt der krämer, in/ der sich alles, alles rechnen muß. halt aus!« Fühmann: »leichter/ wird es nun nicht, ohne ihn/ weiterzuleben, mit dieser gewißheit/ ins unlebbare hinein.« Dem Dichter Kirsten geht das Licht auf in dem, was großen Geistern auf der Seele brannte. »die poesie ist das blut der freiheit«. Schrieb ich nicht, er feiere den so genannten gewöhnlichen Menschen? Ja, aber Kirsten bleibt Dichter genug, um zu wissen: Immer ist der Mensch verhältnis-mäßig, und das beugt ihn, aber der Dichter selbst muss sehr unbeugsam bei sich selbst bleiben, und so ist dieses Lyrikers sozio-regionale Genauigkeit nie Anbiederung an etwas Volkstümliches gewesen, an den Staat sowieso nie; er selbst sprach von einem »Stillhalteabkommen« mit dem DDR-System; seine Verse sind mit den Jahren kunstvoller, strenger geworden, tief im »weichbild meiner dörfer« verwurzelt und zugleich doch »lebensabständig«. Dichter sind der Reichtum des Randes. Einmal, in einem »Sinn-und-Form«-Gespräch, erinnert Kirsten an eine Bemerkung Paul Klees: Uns trägt kein Volk. - Aber diese Dichtung trägt. Trägt den, der Lust hat auf »herzwillige Streifzüge«, hin zu lauter Satzanfängen. Mehr ist da nicht zu erwarten. Nur Natur und Menschennatur. Der Kräftekrieg. Den müssen wir, um unseres Lebens willen, endlich verlieren wollen. Dann, ganz am Ende, also wieder ganz an einem Anfang, ist Dichters Hoffnung auch Lesers Hoffnung: »vielleic...

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