Als die »Schwarze Hand« zuschlug...
Vor 90 Jahren: Die Schüsse in Sarajevo und der Erste Weltkrieg
Am 28. Juni 1914 wurde der Thronfolger des Habsburger Reiches, Erzherzog Franz Ferdinand, mit seiner Frau in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo Opfer eines Attentats. Auf der Fahrt durch die Stadt, die er im Anschluss an eine Truppenbesichtigung besuchte, warf zunächst der 19-jährige Setzer Nedeljko Cabrinovic eine Handgranate auf seinen Wagen, die aber das Ziel verfehlte. Wenig später tötete der 19-jährige Gymnasiast Gavrilo Princip das Thronfolgerpaar mit zwei Pistolenschüssen. Die Tat, verübt von zwei jungen Bosniern serbischer Nationalität, wurde zum Funken, der den Ersten Weltkrieg auslöste.
Die Regierung Österreich-Ungarns machte die serbische Regierung für das Attentat verantwortlich, forderte Genugtuung in einem Ultimatum mit weitgehenden Forderungen und erklärte Serbien am 28. Juli den Krieg, nachdem die Belgrader Regierung das Ultimatum nicht in allen Punkten angenommen hatte. Dieser ersten Kriegserklärung des Weltkriegs folgten am 1. und 3. August die Kriegserklärungen Deutschlands an Russland und Frankreich, an deren Seite Großbritannien am 4. Juli in den Krieg eintrat. Binnen acht Tagen eskalierte der Balkankonflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zum großen europäischen Krieg. Das Pulverfass europäischer Mächterivalitäten, das sich in Jahrzehnten aufgebaut und zunehmend an Schärfe gewonnen hatte, explodierte. »Alle bereiten sich auf einen großen Krieg vor, den alle über kurz oder lang erwarten«, hatte der Chef des deutschen Generalstabs, Helmuth von Moltke, im Dezember 1911 die internationale Lage charakterisiert, wie sie sich im weltweiten Konkurrenzkampf der imperialistischen Mächte um ökonomische und politische Vorteile entwickelt hatte. Und zwar in einem ruinösen Rüstungswettlauf zwischen Völkern, unter denen die Propagierung des Krieges als notwendiges Mittel nationaler Selbstbehauptung zunehmende Verbreitung fand, bis hin zu Schwarmgeistern bei kleinen Gruppen der künstlerischen Avantgarde, die auf Krieg als reinigendes Gewitter setzten, das der engen, satten Bürgerlichkeit des Bestehenden ein Ende machen werde. »Wir wünschen herbei einen großen Weltkrieg«, dichtete 1913 Johannes R. Becher.
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg tendiert häufig dazu, das Attentat von Sarajevo zwar als den Funken zu erwähnen, der zum Kriege führte, dem Vorgang selbst aber keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ein äußerer Anlass sei es gewesen, der ebenso gut ein anderer hätte sein können, mit der gleichen Wirkung, der Auslösung des längst herangereiften großen Krieges. Tatsächlich aber schien doch in dem Attentat ein Elementarkonflikt der damaligen Welt auf, der Kampf um nationale Unabhängigkeit. Ihn auszutragen blieb gewiss nicht der einzige, in vieler Hinsicht aber doch bestimmende Inhalt des jahrelangen Ringens, an dessen Ende die Proklamierung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung als grundlegendes Ordnungsprinzip stand. Auf dieses Ziel hin hatten Princip und Cabrinovic geschossen und gebombt. Sie sahen sich in der Tradition des Kampfes der Serben um nationale Unabhängigkeit, der nach Jahrhunderte währender Türkenherrschaft 1878 zur Anerkennung als selbstständiges Königreich geführt hatte. Die Schwächung der ottomanischen Vorherrschaft auf dem Balkan nutzte Österreich-Ungarn zu einer Politik verstärkter wirtschaftlicher und politischer Einflussnahme, was zu einem Dauerkonflikt mit Serbien führte. Vom Berliner Kongress 1878 mit der Besetzung und Verwaltung der nominell weiterhin türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina betraut, wandelte Österreich-Ungarn 1908 die Okkupation in förmliche Annexion um. Gegen die Unterdrückung der aus Serben, Kroaten und Muslimen serbischer oder kroatischer Herkunft bestehenden Bevölkerung hatte sich seit der Jahrhundertwende eine auch als »Jung-Bosnien« bezeichnete national-revolutionäre Geheimbewegung entwickelt, die auf ein selbstständiges Südslawien hinarbeitete, das durch die Vereinigung der unter österreichisch-ungarischer Herrschaft mit südslawischer Bevölkerung stehenden Gebiete mit Serbien geschaffen werden sollte. Aus dieser Bewegung, deren Aktivisten den individuellen Terror für ein besonders erfolgreiches Kampfmittel hielten, kamen Princip und seine Freunde. Das Attentat auf den Thronfolger bereiteten sie von Belgrad aus vor, unterstützt von der serbischen Geheimorganisation »Vereinigung oder Tod«, besser bekannt unter dem Namen »Schwarze Hand«. Diese vom Abwehrchef des serbischen Generalstabs, Oberst Dragutin Dimitrijevic, geleitete Organisation wollte durch radikale Aktionen die ihrer Meinung nach zu laue Politik der serbischen Regierung in der nationalen Frage zu schärferem Vorgehen drängen. Hinter dem Rücken der Regierung half sie bei der Organisierung des Attentats. Sie beschaffte Waffen und Munition, sorgte für die Unterweisung in deren Gebrauch und schleuste die Attentäter illegal über die Grenze.
Die Ermordung des Thronfolgers durch einen serbischen Terroristen traf das Habsburger Reich an seiner empfindlichsten Stelle. Die herrschenden Nationen, Deutsche und Ungarn, stellten mit 22 Millionen eine Minderheit der 51 Millionen betragenden Gesamtbevölkerung gegenüber Tschechen und Slowaken, Serben und Kroaten, Polen, Ruthenen, Rumänen, Slowenen und Italienern. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hatte sich der Nationalitätenkampf verschärft. Am Vorabend des Weltkriegs bebte das einstmals stolze Gebäude der Habsburger Macht in allen Fugen. »Die Zukunft Österreichs ist dunkel, aber sicher«, bemerkte damals ein österreichischer Aristokrat in einer Mischung von Witz, Zynismus und Resignation. Sorge um scheinbar unaufhaltsame Schwächung des Reiches bis hin zu seinem Zerfall trieb österreichische Politiker und Militärs um, die in einem siegreichen Krieg das Mittel sahen, um die innere Lage zu stabilisieren. Der einflussreichste Repräsentant dieser Kriegspartei war Generalstabschef Conrad von Hötzendorf. Seit Jahren hatte er zum Krieg gedrängt, gegen Italien und/ oder Serbien, zwei Staaten, die besonders bedrohlich erschienen, richteten sich doch die nationalen Bestrebungen von Italienern oder Serben auf österreichisch-ungarischem Territorium nicht, wie etwa bei Tschechen und Slowaken, auf Autonomie innerhalb der Monarchie, sondern auf Lostrennung von ihr durch Anschluss an die jenseits der Grenze bereits bestehenden Nationalstaaten.
In den hektischen Überlegungen der politischen und militärischen Führung der Doppelmonarchie, wie auf das Attentat zu reagieren sei, neigte sich die Waage sogleich zur Antwort durch den von Conrad und seinen Gesinnungsgenossen seit langem geforderten Krieg. Der aber war nicht vom Zaune zu brechen, ohne das Räderwerk der in den letzten Jahrzehnten entstandenen europäischen Bündnissysteme in Bewegung zu setzen. Krieg gegen Serbien bedeutete Krieg gegen Russland, das mit Sicherheit an die Seite Serbiens treten würde, da der Zarismus seit Jahrzehnten das bedrängte Serbien unterstützt hatte, aus Sympathie mit den slawischen Brüdern, wie öffentlichkeitswirksam proklamiert wurde, vor allem aber in der Verfolgung von Zielen russischer imperialistischer Politik gegen die Türkei und Österreich-Ungarn. Den Ausschlag zu Gunsten des Krieges gab die Haltung der deutschen Reichsleitung. Er müsse sich der Unterstützung durch den mächtigen Bundesgenossen Deutschland versichern, erklärte der Außenminister Österreich-Ungarns, Graf Berchtold, den Heißspornen, die nach Sarajevo zum sofortigen Losschlagen drängten. Als ihm Anfang Juli die unbedingte Unterstützung Deutschlands zugesagt wurde, war der Weg zum Krieg frei, den entschlossen zu beschreiten die Wiener Regierung in den folgenden Wochen ständig durch Berlin gedrängt hatte.
In der Führung des deutschen Imperialismus, dessen aggressive »Weltpolitik« entscheidend zur Zuspitzung der internationalen Situation beigetragen hatte, wuchs im Sommer 1914 die Bereitschaft zum Krieg. »Wenn's doch endlich überbrodeln würde - wir sind bereit, je eher, desto besser für uns«, hatte Generalstabschef Moltke wenige Wochen vor Sarajevo einem deutschen Diplomaten, der vor der drohenden Isolierung Deutschlands gewarnt hatte, entgegengehalten und in den gleichen Tagen dem Staatssekretär des Äußeren, Gottlieb v. Jagow, nahe gelegt, die deutsche Politik »auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen«. In zwei bis drei Jahren, wenn Russland seine Rüstungen beendet habe, werde die militärische Übermacht der Feinde so groß, dass Deutschland ihrer nicht Herr werden könne. Es bleibe nur übrig, einen Präventivkrieg zu führen, »um den Gegner zu schlagen, solange wir den Kampf noch einigermaßen bestehen können«. Für Leute, die so dachten, war Sarajevo ein Glücksfall.
Unbestreitbar, so konnte man argumentieren, hatte sich ein Gegner ins Unrecht gesetzt, gegen den vorzugehen vor der eigenen und der internationalen Öffentlichkeit gerechtfertigt erschien. Im Krieg, der ausgelöst worden war durch einen nur scheinbar lokalen Konflikt, behielt die Konfrontation von nationaler Befreiung versus nationaler Unterdrückung eine zentrale Bedeutung. Sie zeigte sich konkret und höchst folgenreich, als die früheren Verbündeten Italien und Rumänien sich 1915 und 1916 auf die Seite der Entente schlugen, von deren Sieg sie die Befreiung ihrer Landsleute in Südtirol, an der Adria bzw. in Siebenbürgen erhofften. Diese Hoffnungen erfüllten sich nach dem Sieg der Alliierten und assoziierten Mächte über Deutschland und seine Verbündeten. Italien und Rumänien erhielten einen beträchtlichen Gebietszuwachs. Neue selbstständige Staaten entstanden: Das später Jugoslawien genannte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, die Tschechoslowakei, Polen, die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland, Estland. Der erreichte Fortschritt freilich war brüchig. Die von den Siegern geschaffene Staatenordnung scheiterte schließlich an der Inkonsequenz der Durchsetzung des feierlich verkündeten und grundsätzlich ja zukunftsweisenden Prinzips der nationalen Selbstbestimmung. Imperiale Interessenpolitik politisch und ökonomisch starker Staaten wurde weiterhin betrieben. Diskriminierung von Minderheiten kennzeichnete bald das innenpolitische Klima in den neuen Nationalstaaten.
Neunzig Jahre nach dem Beginn der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts wird in zahlreichen Veröffentlichungen, in Ausstellungen und auf wissenschaftlichen Konferenzen des Datums gedacht. Bestürzend ist die Aktualität dieses Ereignisses einer bis heute nicht vergangenen Vergangenheit. Terroristen, die meinen, nur durch Mord und Opfertod wirkliche oder vermeintliche Unterdrückung abschütteln zu können - Herrschende, die glauben, wirklicher oder vermeintlicher Bedrohung nur mit Krieg und Gewalt begegnen zu können: Unselig vertraute Bilder unserer Tage werden sichtbar. Blick auf Geschichte ist immer auch Blick auf Gegenwart. Kritische Sicht auf vergangenes Unheil, geschärft durch die Beachtung von Alternativen, die es immer gegeben hat und immer gibt, mag denen helfen, di...
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