Die Schnecke kann ihr Haus tragen

Stephan Pauli ist (wahrscheinlich) Deutschlands jüngster Schuldirektor

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.
Auf dem Weg nach Neuruppin überlege ich, wie er aussehen könnte. Ließe sich der Text vielleicht mit einer eindrucksvollen Beschreibung beginnen? Sozusagen mit einem Paukenschlag: Eine Gruppe Halbwüchsiger, hemdsärmelig, in verwaschenen Jeans, hat sich auf dem Schulhof versammelt - wer ist hier Schüler, wer Direktor? Jede Fantasie arbeitet mit Bausteinen aus der Wirklichkeit, und so entwerfe ich lediglich das Kontrastprogramm zu den Autoritäten meiner Jugend und der meiner Kinder. Die Herren, an die wir uns erinnern, waren weit über 50, also steinalt, trugen graue Anzüge, in der Regel mit Bauchweite, schauten streng und waren schon deshalb unnahbar, weil man sich ihnen nicht nähern wollte. Als ich Stephan Pauli sehe, muss ich mein Bild von ihm korrigieren. Zunächst in Details - seine Jeans sind neu und die Ärmel des Hemdes nicht aufgekrempelt; auch hat er ein dunkles Jackett bei der Hand, das ihm, wenn er es überstreift, lässige Seriosität verleiht. Dann aber in Entscheidendem - selbst, wenn seine Schüler nicht Knirpse, sondern baumlange Gymnasiasten wären, man würde Pauli in ihrer Mitte sofort als den Direktor erkennen. Es liegt an seiner Ausstrahlung. Auch Pauli besitzt Autorität, und zwar eine natürliche. Er lacht: »68 liegt hinter uns. Zum Glück! Was diese Bewegung uns in pädagogischer Hinsicht bescherte, war nicht immer segensreich.« Seit drei Jahren ist Stephan Pauli Direktor der Montessori-Schule in der Fontane-Stadt Neuruppin. Er war 26, als er dort anfing. Heute ist er 28 und wahrscheinlich immer noch Deutschlands jüngster Schuldirektor. Das behauptet jedenfalls sein Neuruppiner Freundeskreis, der freilich keine Gelegenheit auslässt, Aufmerksamkeit auf das Städtchen zu lenken. Andererseits, ist man vertraut mit den Hierarchien an staatlichen Schulen, ist man sofort bereit, es zu glauben. An welcher staatlichen Schule hätte man je einen Direktor gesehen, der ins Amt gerufen wurde, nachdem er soeben erst sein Referendariat beendete? Bei Pauli ist es so gewesen. Später, nach Schulschluss, wird er uns die Geschichte kurz erzählen: Schon immer habe er mit allem, was er tat, schnell fertig werden wollen. So habe er für das Pädagogikstudium, das er mit 19 in Rheinland-Pfalz begann, lediglich drei Jahre gebraucht. Statt zu den Feldjägern zu gehen, habe er sieben Jahre lang in einer Rot-Kreuz-Einheit gedient - 200 Stunden pro Jahr, nicht wenig, aber eben doch »ehrenamtlich«. So hätte er rein theoretisch unmittelbar nach dem Examen das Referendariat beginnen können. Praktisch sei er noch zu jung gewesen, weshalb er die Wartezeit mit Vertretungen überbrückte. Dabei habe er das Glück gehabt, mit einer jungen Direktorin, nur wenig älter als er heute, eng zusammenarbeiten zu dürfen. Sie habe die »verknöcherte« Schule, die sie übernommen hatte, wieder zum Leben erweckt - er habe gelernt, dass so etwas möglich ist. Dann die zweite Lehramtsprüfung. Keine Chance auf Festanstellung. Er habe die Wahl gehabt, entweder »einen Zeitvertrag nach dem anderen« abzuschließen, oder aber in Richtung Berlin seinen Eltern nachzuziehen. Er habe sich für Berlin entschieden. Und dann, an Silvester 2000, sei »Unglaubliches« geschehen: Wie er so in der endlosen Schlange an der Kasse des Supermarkts stand, habe er aus Langeweile nach einer beliebigen Zeitung gegriffen. Sein Blick sei auf eine Annonce gefallen. Die hatte eine Elterninitiative geschaltet, um dem Beruflichen Bildungszentrum der Prignitzer Wirtschaft bei der Suche nach einem Pädagogen zu helfen, der eine Montessori-Schule aufbaut. Etwas aufbauen! Das, was er suchte! Er habe sich beworben, sei ausgewählt worden. Noch immer bewundere er den Mut des Gremiums, »einen so jungen zu nehmen«. Aber das meint er nicht ganz ernst. Dass er jung ist, sieht er nicht als Nachteil. Er ist überzeugt, »ein junger Direktor ist noch näher bei den Kindern. Er hat mehr Geduld und versteht sie besser.« Er sagt zwar, an älteren Pädagogen schätze er die reiche Erfahrung, doch die älteste Lehrerin in seinem Team ist 42. Pauli gibt gleich eine Englischstunde. Bevor wir ins Klassenzimmer dürfen, müssen wir unsere Schuhe ausziehen. Weil es mit Teppich ausgelegt ist und weil Straßenschuhe - richtig! - ausschließlich auf die Straße gehören. Auf der Straße kann man nicht lernen. Zum Lernen braucht es eine konzentrierte, stille, häusliche Atmosphäre. Zu Hause trägt man Hausschuhe. Weshalb die Schüler, sobald sie die Schule betreten, auch hier ihre Hausschuhe anziehen. Noch sind sie zur Pause auf dem Hof. Noch ist das Klassenzimmer leer, und Pauli kann seinem Stolz Ausdruck geben, dass es so warm und behaglich ausschaut. Ganz anders als in jener Schule, »die hier, bevor wir kamen, drin war: ein Regal und eine vertrocknete Pflanze - ich hätte mich als Lehrer geschämt«. Pauli kann uns die Anordnung der Tische zu drei Tableaus erklären. In jeder Klassengemeinschaft lernen Kinder dreier Klassenstufen. Eine jede setzt sich um ein Tableau, wobei die Kinder einander zugewandt sind - so bilden sie eine Gruppe, die miteinander arbeitet. Denn miteinander arbeiten, sich gegenseitig um Hilfe bitten, bevor sie den Lehrer fragen, das ist es, was sie lernen sollen. Gleichzeitig können die drei Gruppen miteinander kommunizieren. Komme ein jüngerer Schüler nicht mit einer Aufgabe zurecht, könne er einen älteren fragen. Wenn der nicht weiterhelfen kann, »blamiert er sich, und das«, so Pauli, »passiert ihm nur ein einziges Mal. Ganz schnell schließt der seine Wissenslücke«. Nicht zuletzt gewinne der Lehrer so Zeit, sich den Kindern einzeln zu widmen. Er könne sie besser kennen lernen, ihnen nach ihren Fähigkeiten differenzierte Aufgaben stellen. Jeder werde abgeholt, wo er ist - für den Lehrer ein Mehraufwand bei der Unterrichtsvorbereitung, »aber das verlange ich von jedem, der hier arbeitet«. Die Reformpädagogik Maria Montessoris (1870 - 1952) orientiert sich unmittelbar am Kind - berücksichtigt seine Bedürfnisse, gibt ihm Raum für Entscheidungen, zielt auf Selbstständigkeit im Denken und Handeln. Für Pauli heißt das aber nicht, dass jeder machen darf, was er will. »Natürlich setzen wir klare Grenzen! Die Kinder dürfen im Unterricht trinken. Aber nicht, wenn ich rede! Sie wissen, das wäre unhöflich.« Überhaupt halte er nichts davon, »dass man alle 20 Jahre eine neue pädagogische Schule abfeiert«. Man brauche von allen Ideen die besten! Inzwischen hat sich das Zimmer gefüllt. Die Kinder haben Platz genommen, ihre Hefte aufgeschlagen. Es hat nicht zum Unterricht geklingelt. Pauli erklärt: »Die Arbeit beginnt, wenn die Schüler den Raum betreten. Und sie wird auch nicht von einem Klingeln, sondern von mir, dem Lehrer, beendet.« Pauli begrüßt die Mädchen und Jungen. Energisch: »Good morning, boys and girls.« Die Gespräche verstummen sofort. Temporeich macht Pauli weiter: »Hannah! Stand up, please. Go to Samira.« »Richard! Stand up, please, wash your hands.« »Johannes! Stand up, please. Open the door. Say good bye and close the door.« »Alexandra! May you call back Johannes?« »Richard! Can you go to Hannah?« Alle Kinder sind einbezogen. Was wir noch paukten, lernen sie spielend. Sie sind allesamt Drittklässler. Das heißt, dass sie nur einen Kurs wie diesen gemeinsam absolvieren. Sonst sind sie in verschiedenen Klassen, den »Schnecken« und den »Schildkröten«., denen - wie bereits erwähnt - drei Klassenstufen angehören. Es gibt noch »Eichhörnchen«, »Igel«, »Schmetterlinge«; die Großen sind »Seeadler« oder »Eulen«. Wer möchte schon eine Schnecke sein? Die Kinder wissen: Schnecken sind klein, doch nicht hilflos. Im Gegenteil, sie sind so stark, dass sie ihr eigenes Haus tragen können. Und wer wäre gern eine Eule? »Eulen sind schlau«, grinst Pauli gerissen. Er hat sich die Namen ausgedacht und mit Ritualen verbunden. So gibt es für jedes Tier die entsprechende Handpuppe. Die wird täglich verlost: Das Kind, das gewinnt, darf sie mit nach Haus nehmen und etwas ins Klassentagebuch schreiben... Paulis unverbrauchte Freude, sich etwas einfallen zu lassen, spiegelt sich in der Freude der Kinder. Jetzt allerdings müssen die Drittklässler einen Englischtest ausfüllen. Test ist Test, und dabei dürfen auch Montessori-Schüler nicht abschreiben. Da die Nachbarn als Helfer ausfallen, geht, wer eine Frage hat, zu Pauli. Der hilft mal mehr, mal weniger. Je nachdem, ob der Schüler es nötig hat. Er wird auch keine Zensuren erteilen. Noten seien nicht vergleichbar, sagten nichts darüber aus, ob sich einer angestrengt hat. Jeder müsse sein Bestes geben. So gibt es nur zwei Bewertungen - »gekonnt« bedeutet: null Fehler, »fast geschafft« heißt: weiter lernen. Und zwar so lange, bisman es kann. Die Erziehung zu einer Haltung. Die Schüler geben ihre Tests ab. Pauli entlässt sie in die Freizeit. Sie verabschieden sich von ihm. Sähen wir es nicht mit eigenen Augen, wir würden nicht glauben, wie zärtlich Kinder sich an einen Lehrer drängen können. Wie zärtlich der ihnen über den Kopf streicht. Angesichts des Generalverdachts, mit dem solche Szenen belegt werden, wagt man ja kaum noch, sie zu schildern. Dabei sind sie die schönsten der Welt! Und auch die natürlichsten. Pauli: »Kinder in diesem Alter zeigen Zuneigung ganz spontan. Es sei denn, man verbietet es ihnen. Warum sollte ich das tun? Einige Kinder sehen mich ja öfter als den eigenen Vater, der beruflich viel unterwegs ist. Da ist es besonders wichtig, ihre Zuneigung zu erwidern.« An Paulis Schule ist Herzlichkeit Pflicht. Wer hier arbeiten will, muss sie mitbringen. Pauli liefert den Beweis, dass Herzlichkeit Autorität nicht beschädigt. Autorität, wie er sie versteht, ist, »wenn Kinder akzeptieren, dass ich manchmal Entscheidungen für sie treffe, weil sie davon ausgehen, meine Entscheidungen sind richtig«. Sie gingen freilich nur dann davon aus, »wenn meine Autorität nicht aufgesetzt ist, die würden sie mir nicht abkaufen«.Auf Respekt könne er dabei auch mal verzichten: »Selbstverständlich sind Kinder mal frech. Ich bin auch mal frech zurück. Wir lachen, ich gewinne an Achtung. Ich kann mich darauf verlassen: Wenn wir einen Gast haben, würden sie mich nie bloßstellen.« Woraus besteht Autorität? Pauli meint, aus Selbstsicherheit. Und Selbstsicherheit sei die Gewissheit, für den Beruf geboren zu sein. Er ist überzeugt: Das ist er. Er war Schülersprecher, Babysitter, Volleyball- und Tennisspieler, Judoka und Leistungstänzer, Geigenschüler, Turner und Ausbildungshelfer beim Kinderschwimmen in der Deutschen Lebensrettergesellschaft... »Ich konnte nichts perfekt, doch von allem ein bisschen. Die ideale Voraussetzung, um an einer Grundschule zu unterrichten. Ich muss kein Musiker sein, um mit den Kindern zu singen, kein Maler, um mit ihnen zu zeichnen.« Damit auch die Kinder Interessen ausbilden, gibt es auch nachmittags Angebote: Tanz, Gymnastik, Kinderchor, Wasserwacht junior, Junge Künstler, Reise in die Stille, Club der Spezialisten... Vor drei Jahren war die Schule als private Alternative zu staatlichen Schulen gegründet worden. Eltern, die für ihre Kinder keine Konfektion wollten, hatten die Initiative ergriffen. Bei ihnen steht Pauli in der Pflicht. So darf man annehmen, dass neben Fachkompetenz auch jene Herzlichkeit, die wir bewundern durften, auf dem Leistungskatalog steht, den er erfüllen muss, um sie zufrieden zu stellen. Es gelingt ihm offensichtlich: Begann er mit 21 Schülern, zwei Lehrern und einem Erzieher, hat er heute 148 Schüler, drei Erzieher, sechs Lehrerinnen. Für das Jahr 2007 sind schon 22 Schüler, für 2008 immerhin 14, für 2009 sechs angemeldet: »Sobald das Kind geboren ist, kommen die Eltern, um ihm einen Platz zu sichern.« Und das, obwohl der Schulbesuch pro Kind und Monat 103 Euro kostet. Eine Benachteiligung von Kindern aus unteren sozialen Schichten mag Pauli darin nicht sehen. Er glaubt, wenn Kinder benachteiligt würden, dann dadurch, dass sich Eltern nicht für deren Bildung interessieren. Das käme in sozial schwachen Familien häufiger vor als in gut situierten. Aber dort, wo Interesse bestünde, könnten Oma und Opa helfen, oder »Papa könnte zu rauchen aufhören«. Nur eine Mutter, die arbeitslos wurde, habe ihr Kind von der Schule genommen. »Wir hätten einen Weg gefunden, aber es war ihr zu peinlich.« Paulis Direktorenzimmer sieht übrigens fast so nüchtern aus wie die von ihm mit Verachtung gestraften Klassenräume der Vorgänger. Daran können auch zwei Topfpflanzen, eine Palme, von seiner Mutter gestiftet, und eine von Schülern auf seinen Namen ausgestellte Urkunde für den »beliebtesten Lehrer der Schule« nichts ändern. Man sieht, dass er nicht oft hierher kommt. Er ist kein Beamter, sondern Lehrer. Und zwar einer, der sich am liebsten inmitten seiner Schüler aufhält. Das ist selten geworden in Deutschland. Schüler wie seine sind selten geworden. Schüler aus intakten und sozial abgesi...

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