»BezuLe« - Bestattung zu Lebzeiten

Heute vor 40 Jahren startete in Berlin DT64 seinen regulären Sendebetrieb

Was da am 19. Juni 1992 im Beitrittsgebiet aus dem Radio tönt ist ein Schock. Gute-Laune-Moderatoren mit Schleichwerbung getränkten stereotypen Floskeln, billig produzierte Nachrichten auf Musikteppich, vom lokalen Autohaus gesponserter Verkehrsfunk, unerträgliche, weil zu Tode gedudelte Hitparadenmusik. Dazwischen immer wieder die brüllenden Stimmen, die einem Schrankwände, Damenbinden oder Geldinstitute empfehlen. Protestanrufe im Funkhaus und bei Einrichtungen zur Frequenzüberwachung. Hier ist ohrenscheinlich ein Privatsender mit dem Namen Superradio 2000 O in der Luft, 12 Tage bevor Privatradios senden dürfen. Doch wer genau hinhört, entdeckt feine Nuancen. Die Radiostimmen gehören allesamt zum Jugendradio DT64. Die Werbung ist fiktiv: Tampons von Okay, die Kaputt-Zeitung und das Rosa Blatt, Pickelcreme Aknesil, Windeln von Plampers. Ein Werbespot sticht besonders hervor. »BezuLe - Bestattung zu Lebzeiten«. Rationell und effektiv. Wir organisieren Ihre Bestattung zu Lebzeiten mit den drei Doppelpluspunkten. Alles wie echt für Sie zu sehen aus dem gläsernen Sarg. Die ganze Zeremonie für Sie in einer Top-Videoaufzeichnung. Und Sie gehen später mit zum Leichenschmaus! BezuLe - Bestattungen zu Lebzeiten. Jetzt auch in den neuen Bundesländern.«
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Artikel 36, Rundfunk
(1) Der »Rundfunk der DDR« und der »Deutsche Fernsehfunk« werden als gemeinschaftliche staatsunabhängige, rechtsfähige Einrichtung von den in Artikel 1 Abs. 1 genannten Ländern und dem Land Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt, bis spätestens 31. Dezember 1991 weitergeführt, soweit sie Aufgaben wahrnehmen, für die die Zuständigkeit der Länder gegeben ist...
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Niemand ahnt, wie nah diese Werbeparodie-Wirklichkeit für die Radiomacher selbst ist. Dass sie selbst im gläsernen Sarg bald ihrer eigenen Bestattung zusehen, übersteigt ihre Fantasie. Dabei weiß man inzwischen genau, die Rettung des DDR-Jugendradios in der Silvesternacht 1991, als der Artikel 36 des Einigungsvertrages sein Fallbeil für den DDR-Hör- und Fernsehfunk ausfuhr, ist noch nicht vollendet. Zwar hatte sich der Mitteldeutsche Rundfunk wenige Tage vor der DT64-Abschaltung beeindruckt von den Massenprotesten der Hörer durchringen können, das Programm in den drei Bundesländern seines Sendegebietes weiter zu führen, doch bleibt die Zukunft ungewiss. Die meisten Frequenzen des Jugendkanals sind von der Politik bereits dem Privatfunk zugesprochen worden. Der mdr nutzt aus der DT64-Erbmasse Sendemasten für mdr Life und später Jump. Der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg übernimmt zwar Teile von DT64, aber nur, bis sein eigenes Jugendprogramm Rockradio B und Radio4U vom Sender Freies Berlin zu Fritz fusionieren. Im Norden verzichtet die zuständig gewordene Landesrundfunkanstalt NDR zwei Jahre sogar völlig auf ein Jugendprogramm. Erst die Tochter des NDR-Intendanten Jobst Plog bringt ihren Vater auf die Idee, die Jugendwelle N-Joy zu gründen. Ein Jahr später, 1995, zieht auch der WDR mit dem Jugendkanal EinsLive nach. Der Hessische Rundfunk und die Anstalten im Südwesten installieren mit der Digitalisierung ihrer Programme spezielle Jugendangebote (XXL, Das Ding).
Das alles hätte die ARD auch einfacher und billiger haben können, denn die Idee eines bundesweiten Jugendsenders DT64 gab es bereits im Frühjahr 1990. Das ging den ARD-Intendanten dann doch zu schnell und zu weit. Außerdem lag ihre volle Aufmerksamkeit nicht beim Hörfunk, sondern auf der Erbmasse des DDR-Fernsehens, das nach den Worten des damaligen ARD-Vorsitzenden Friedrich Nowottny im April 1990 zur Konkurrenz gerechnet werden muss. Am Deutschen Fernsehfunk als dritte öffentlich-rechtliche Anstalt ist die ARD nicht wirklich interessiert, auch wenn Planspiele diesen Fall miteinbeziehen.
DT64 gerät damit in den Strudel des Föderalismus und parteipolitischer Machtkämpfe. Brandenburgs Ankündigung, man würde zwar DT64 weiterführen, aber nur gemeinsam mit anderen Ländern, wird zur Makulatur, als doch tatsächlich Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit dem mdr die Hand ausstrecken. Der ORB, ohnehin nur sehr sparsam im Hörfunk mit zwei Wellen ausgestattet, will sich nicht in die Abhängigkeit zum mdr begeben. Eine eigene, als DT64-Plagiat empfundene Jugendwelle ist ihnen lieber als das kooperierte Original. Man wisse ja nicht, ob die Zukunft von DT64 sicher sei. Also hilft man, sie zu verkürzen. Die Arbeitsgemeinschaft Öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) ist nicht immer gemeinschaftlich. Den Rest übernehmen die Privatfunklobby und Politiker mit einer traumatisierten DDR-Erfahrung.
Zu den schnell blühenden Landschaften am Ende des Tunnels, durch die der Zug der Einheit innerhalb von drei bis fünf Jahren fahren soll, gehört nämlich auch das Duale Rundfunksystem. Es gibt zwar altbundesdeutsche Kritiker, wie den Grafiker und Plakatekünstler Klaus Staeck, die den Privatfunk als Sündenfall, als Anfang vom Ende eines niveauvollen Rundfunks bezeichnen, aber irgendwie ist diese Ansicht nicht mehrheitsfähig. Da hilft auch nicht das Durchspielen eines Radiotags als Superradio 2000 O im Dudelfunklook. Freiheit ist unteilbar und für alle da. Auch für die, die nach mehr Abwechslung rufen, aber Einfalt anbieten. Gute Laune, wann immer Sie wollen zwischen Damenbinden und Pickelcreme - die UKW-Prophezeiung von DT64 hat sich im Osten erfüllt.
DT64 kann jedoch zunächst vom Leichentuch aufspringen und am Tropf der Mittelwelle vorübergehend überleben - zum Trotz aller Grabesredner, die mit leidenschaftlichen Rhetorikanstrengungen wahlweise vor der Gefahr eines Bolschewisten-, Rot-, oder Blauhemdsenders warnen. Sie haben es damit leicht, denn eins kann man DT64 wirklich nicht unterstellen, Oppositionsfunk in der DDR gewesen zu sein. Die Sendungen mit Tabuthemen oder kritischen Beiträgen können tatsächlich nicht als Beleg für einen Aufruf zum BRD-Beitritt uminterpretiert werden. Das gilt natürlich auch für die heute noch existierenden Bezirkszeitungen der DDR-Presse. Doch das ist Marktwirtschaft. DT64 fließen dagegen Gebührengelder zu. Als Thüringens Junge-Union-Chef sieht Michael Panse die deutsche Einheit gefährdet. Der Sender würde die Ostidentität stärken und erhalten. Diese auch von einigen anderen DDR-leidgeprüften Nachwendepolitikern geteilte Einschätzung kann zwar den Vormarsch des Jugendradios ins Weltall und seine Verbreitung per Satellit nicht verhindern, aber der Sendername steht im Austausch zur Disposition. Dass es noch schlimmer kommen könnte als mit dem Kürzel, das an das Deutschlandtreffen 1964 (DT64), die Geburtsstunde des Senders erinnert, ist selbst für den bolschewistischsten DT64-Macher nicht vorauszusehen. Aber irgendwie entspringt dem Chefredakteur Michael Schiewack unter dem Eindruck der aus 32000 km Höhe abgestrahlten Stereoqualität der Name Sputnik. Dass in der DDR eine sowjetische Zeitschrift mit demselben Namen verboten wurde, macht es schwer gegen Sputnik zu sein. Der zweite Sputnik-Schock.
Der Tod kommt dennoch, wenn auch schleichend. Die Hörerzahlen schwanken parallel zur technischen Verfügbarkeit. Die Mittelwelle fällt wieder mdr info zu. Die vorübergehende terrestrische Abstrahlung über das mdr-Fernsehen in den Morgenstunden weicht einem Pausenfilm schippernder Elbkähne. Das Internet gewinnt einige neue Hörer. So manches Kabel hat Sputnik im Angebot. In Halle, am Funkhausstandort, ist inzwischen sogar eine gelegentlich weit nach Weimar reichende UKW-Lowpowerfrequenz bis zum letzten Watt ausgereizt. Dies kommt für die meisten DT64-Mitarbeiter zu spät. Sie sind aus dem gläsernen Sarg gesprungen, wollen die Topvideoaufzeichnung nicht mehr, die ihnen zuteil gewordene Aufmerksamkeit anderer Medien oder sogar des Bundestages, verspüren keinen Appetit nach Leichenschmaus und haben wieder Lust nach richtigem Radioleben oder anderen Herausforderungen. Die neuen Leute müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie sich nicht aus dem DT64-Mythos befreien können. Ein sorgfältig gewachsenes Kreativteam lässt sich nicht nach dem Chefredakteursprinzip neu backen. Die einzige Chance für Sputnik ist der jetzige Weg als Experimentalradio ohne Massenwirksamkeit.
Kulturen kommen und vergehen, so Marianne Oppel, DT64-Mitarbeiterin der ersten Generation. Einiges blüht in anderen wieder auf. So manches verschwindet für immer.
Jörg Wagner moderiert wöchentlich das Radio EINS Medienmagazin. Er publizierte (mit Andreas Ulrich) im Leipzi...

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