Die Dinge vernünftig klären

DIE KINDER: Ulrich Lamberz über seinen Vater, Wandlitz und das Projekt einer Europäischen Linkspartei

Fluch oder Segen? Kinder berühmter Eltern - wie fühlen sie sich? Inwieweit wurde ihr Lebensweg von dem der Väter und Mütter befördert oder überschattet? Nehmen sie das große Erbe an, tragen sie es weiter oder lehnen sie es ab? Können sie je mündig werden, gelingt ihnen die Emanzipation von der Aura der Eltern, gehen sie eigene, andere Wege? Gabriele Oertel und Karlen Vesper befragen Kinder von Persönlichkeiten, die linke Politik und Geistesleben in Ost- und Westdeutschland beeinflussten. Heute: Ulrich Lamberz.

ND: Alle Jahre im Januar ist bei der Liebknecht-Luxemburg-Ehrung in Berlin-Friedrichsfelde zu beobachten, dass - außer bei Karl und Rosa - die meisten roten Nelken an der Gedenktafel für Werner Lamberz liegen. Auch 25 Jahre nach seinem Tod. Wie erklären Sie sich das?
Lambertz: Ich höre immer wieder: Er war anders, wir haben viel von ihm gelernt, er hatte eine andere Art, politische Fragen anzugehen, auf die Menschen zuzugehen, hatte einen anderen Lebensstil.

Er war ein Hoffnungsträger.
Ich denke, dass sich das mit dem zeitlichen Abstand zur DDR ein wenig idealisiert. Die Leute glauben, er wäre derjenige gewesen, der alles hätte umkrempeln können.

Glauben Sie das nicht?
Ich bin skeptischer. Was nicht bedeutet, dass mein Vater nichts hätte bewirken können. Er hat versucht, inhaltliche Nuancen anders zu setzen. Auch wenn ich zu jener Zeit in Moskau studierte, so weiß ich doch, dass es harte Auseinandersetzungen gegeben hat. Unter anderem über die Schönfärberei und Hofberichterstattung im Journalismus. Vater war der Meinung, man muss den Leuten die Wahrheit sagen. Man kann sozialistische Politik nur mit den Köpfen der Menschen machen, braucht deren Begeisterung. Und diese ist nicht allein über den Konsum zu erreichen. Diese Argumentation - zum Beispiel in seinem Artikel in der »Einheit« zur Ideologie und Wirtschaftspolitik der SED - brachte ihm sehr viel Ärger ein, besonders mit Günter Mittag.

Hat der Sohn den Vater nicht als Hoffnungsträger gesehen?
Er war für mich vor allem mein Vater. Und letztlich hat er uns gegenüber, der Familie, die Politik der Partei zu vertreten versucht.

Zum Beispiel?
Wenn ich über die absolut unlesbare Seite Drei im ND hergezogen bin. Da hat er sie verteidigt.

Und hat er Sie überzeugt?
Mir klang das mehr nach Parteidisziplin: Man müsse über die Produktionsergebnisse an bedeutender Stelle im Zentralorgan berichten.

Als Ihr Vater 1976 den VEB Kranbau Eberswalde besuchte, sagte er den dortigen Arbeitern: »Politik wird nicht nur in Berlin gemacht.« Sie sei abhängig »von der guten oder weniger guten Arbeit in den Betrieben«. Er hat die Arbeiter nicht als das letzte Rädchen im Getriebe angesehen.
Ich weiß. Und wenn er in die Betriebe ging, sagte er: »Zeigt mir hier den schmutzigsten Arbeitsplatz.« Er hielt nichts von Potjomkinschen Dörfern. Das lag wohl daran, dass auch er ein Arbeiter war, gelernter Heizungsmonteur.

Arbeiter und Handwerker waren im Politbüro keine Ausnahme.
Stimmt. Aber manche Genossen haben vergessen, woher sie kamen. Vater hat uns Kindern vermittelt, dass man die Arbeit zu achten hat.

Hat er zu Hause von seinem Zoff im Politbüro erzählt?
Selten. Dafür war auch wenig Zeit. Neulich erst erinnerte ich mich in einem Gespräch mit meinen beiden Töchtern, dass wir mit Vater kaum gemeinsam Frühstück oder Abendbrot gegessen haben. Wenn ich aufstand, saß er schon am Schreibtisch, wenn wir Abendbrot aßen, war er noch im ZK.

Und wann hatte er Zeit für Sie?
Beim Sport und bei Spaziergängen. Vater ist gern geschwommen. Natürlich hatte er, wenn wir Probleme hatten, immer Zeit für uns.

Und da hat er Geschichten aus dem »Großen Haus« erzählt?
Er sprach nie über Interna.

Haben Sie bemerkt, wenn er Stress hatte?
Er war ein ausgeglichener Mensch. Aber ein Sohn spürt, wenn der Vater Sorgen hat. Er hat uns aber weitgehend aus seiner Arbeit rausgehalten.

Als Ihr Vater ins Politbüro kam, musste die Familie nach Wandlitz umziehen. Wie fanden Sie es dort?
Vulgär würde ich sagen: beschissen. Mich störten elementare Dinge. Zum Beispiel, dass ich von meinem Freundeskreis getrennt wurde. Meine Eltern haben mich unterstützt, dass ich meine Schule in Berlin-Friedrichshain weiter besuchen konnte. Aber man konnte sich mit den Freunden nicht mehr spontan verabreden, weil das Auto, das einen abholte, pünktlich vor dem Schultor stand. Für einen normalen jungen Menschen ist das belastend.

Aber das Leben in Wandlitz hat Ihren Vater nicht lebensfremd gemacht?
Nein. Wir waren die einzige Familie, die kein Jagdhaus und keine Datscha hatte. Natürlich haben wir auch den Laden in Wandlitz benutzt. Und Vater fuhr nicht Trabant, sondern Volvo. Was ich ihm als 14-, 15-Jähriger vorgehalten habe. Ich erinnere mich aber, wie ihm einmal auf der Leipziger Messe am Mifa-Stand neue Fahrräder vorgestellt wurden. Eine Woche darauf bekam er zwei ins ZK geschickt - sie sollten ein Geschenk sein. Er hat sich aber die Rechnung kommen lassen und bezahlt.

Sie studierten in Moskau am Institut für Internationale Beziehungen, IMO. Sie sind quasi in die Fußstapfen Ihres Vaters, den »Persönlichen Botschafter« Honeckers, getreten. Ihre Schwester auch?
Sie wurde Außenhändlerin. Aber diese berufliche Richtung haben wir nicht in dem Bewusstsein gewählt, etwas weiterführen zu müssen. Uns hat die Atmosphäre zu Hause geprägt, die Weltoffenheit meines Vaters, sein Interesse am internationalen Geschehen. Meine Schwester und ich sind im Ausland aufgewachsen. Vater war ab 1955 Vertreter der FDJ beim Weltbund der Demokratischen Jugend, WBDJ, in Budapest.

Sie waren im letzten Semester, als Ihr Vater in Libyen bei einem Hubschrauberabsturz starb. Wie erfuhren Sie von seinem Tod?
Am Tag, an dem er starb, hatte ich meine Vorbereitungen für die Diplomarbeit abgeschlossen: am 6. März 1978. Die Nachricht erhielt ich am Morgen danach. Ein Mitarbeiter der Botschaft kam zu mir in das Obscheschitje, ins Wohnheim. Ich flog nach Berlin.

Nach den Trauerfeiern mussten Sie noch das Studium abschließen.
Das war nicht einfach. Ich erfuhr aber Hilfe von Kommilitonen.

Die Spekulationen um den Absturz halten an. Unfall oder Abschuss? Zu den damals zu Tode Gekommenen gehörte auch ZK-Mitglied Paul Markowski....
Und der Dolmetscher Armin Ernst sowie der ADN-Fotograf Hans-Joachim Spremberg.
Und sieben Libyer, darunter hochrangige Politiker. Eigentlich wollte Staatschef Ghaddafi mitfliegen.
Sollte ihn ein Anschlag treffen? Oder hatte er selbst Widersacher zu beseitigen? Es soll Warnungen aus Moskau gegeben haben.
Es gibt verschiedene Versionen. Während der Wende hat die Modrow-Regierung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das wurde durch die Bundesanwaltschaft ergebnislos zu Ende geführt. Ich glaube, der Absturz kam manchem gelegen. Mancher hatte nun einen Widersacher weniger.

Westmedien behaupteten, Lamberz und Markowski seien Honecker und Mielke »unbequem« geworden.
Statt Honecker und Mielke könnte ich auch Mittag nennen. Ich weiß nur, es war ein Verlust. Nicht nur für die Familien.

Das klingt, als hätten Sie den Fall abgeschlossen?
Ich muss. Was soll ich denn machen? Der Kopf sagt: Hör auf.

Die Libyer haben auch nicht zur Aufklärung beigetragen?
Sie haben total gemauert: Es war Allahs Wille. Und Punkt.

Und die DDR-Behörden?
Alle Untersuchungen, so auch seitens des Chefs der Interflug, haben zu nichts geführt. Auch die Obduktion ergab keine Aufschlüsse.

Darüber hat sich das MfS die Kontrolle vorbehalten. Um Spuren zu verwischen?
Erich Mielke hat sich danach um uns sehr gekümmert und immer wieder nachgefragt, ob er helfen kann. Andere überhaupt nicht.

Wen meinen Sie?
Den Generalsekretär. Es war schon bedrückend: Erich Honecker und Werner Lamberz kommen aus einer gemeinsamen Jugendorganisation und haben sich eine ganze Zeit gut verstanden. Aber nach diesem 6. März 1978 war aus dem kollektiven Apparat der Parteiführung wenig Anteilnahme zu hören.

Hatten Sie schon damals einen Verdacht, dass die Version von einem Unglück nicht stimmt?
Völlig akzeptiert habe ich sie nicht. Weil es sich ja nicht um irgendein privates Flugzeug gehandelt hat. Dass Schlamperei schuld war, irgendwelche Hubschrauberteile nicht ordentlich gewartet oder die Piloten nicht nachtflugtauglich waren, erschien mir zu banal. Aber das Verhältnis zu Mielke war so, dass ich in dieser Richtung am wenigsten Verdacht schöpfte.

Und was vermutete Ihre Mutter?
Sie hatte eine ziemliche Wut auf jene, die daran beteiligt waren, dass Vater diesen Flug unternahm. Was nicht heißt, dass sie jenen vorwarf, ihn bewusst in den Tod getrieben zu haben. Die Reise nach Libyen ist kurzfristig, überraschend angesetzt worden. Und Vater war bereits vorher einmal in eine lebensbedrohliche Situation geraten.

Wie das?
1977 war er in Äthiopien. Mengistu hat zu ihm gesagt: »Wenn du das Land kennen lernen willst, dann steige ins Flugzeug, und dann zeige ich dir was.« Er ist ins Flugzeug gestiegen, und es gab irgendwelche Schwierigkeiten, die der Pilot aber noch meistern konnte.

Äthiopien lag damals im Clinch mit Somalia. Ist da ein solcher Flug nicht per se riskant?
Er war ein bisschen draufgängerisch. Viele schreiben das auch seinem rheinländischen Naturell zu.

Ihr Vater ist in Mayen, Rheinland, geboren worden - als Sohn des Bauarbeiters und KPD-Funktionärs Peter Lamberz, den die Nazis bereits 1933 verhaftet hatten.
Und der dann im KZ Sachsenhausen und Buchenwald saß. 1944 hat Großvater sich zum »Strafbataillon 999« gemeldet, um zur Roten Armee überzulaufen. Er war dann Beauftragter des Nationalkomitees »Freies Deutschland« im Baltikum.

Währenddessen besuchte Ihr Vater eine Adolf-Hitler-Schule, erst auf der Ordensburg Sontheim, dann Vogelsang in der Eifel. Hat er Ihnen von dieser Zeit erzählt?
Nein. Es gibt Fragen, die sich mir erst stellten, als ich nicht mehr mit ihm reden konnte.

Offenbar hatte seine Mutter ihn auf diese Weise schützen wollen. Sie ist 1946 gestorben, ohne ihren Mann wiederzusehen?
Die Nazis hatten meiner Großmutter gesagt, dass er wegen »Landesverrat« erschossen worden sei. Vater hat sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden gegeben und über das Rote Kreuz erfahren, dass er in Luckenwalde ist. Großvater war dort für die Bodenreform verantwortlich. Als Kind war er für mich fast eine Legende. Ein klassischer Kommunist. Oder, wie man heute sagt, Linksradikaler. Für ihn waren Kirchen nur dazu da, dass man sie in die Luft jagt. So radikal war mein Vater nicht. Aber er hat eine Kirche mit einer Roten Fahne behängt. Und in Kloster Zinna hat er das Denkmal vom Großen Fritz geschleift. Das war natürlich Unsinn.

War es für Sie förderlich, der Sohn von Werner Lamberz zu sein?
Jain. Es mag komisch klingen, aber ich hatte eine Phase, da habe ich mein Umfeld in drei Gruppen sortiert: Die einen verhielten sich mir gegenüber ganz normal, und das war angenehm. Dann gab es welche, da hatte ich immer das Gefühl: Die meinen, dich hofieren zu müssen, dir irgendwelche Vergünstigungen zu verschaffen. Beispielsweise in der Armeezeit. Da sollte ich plötzlich mehr Ausgang oder ein anderes Zimmer bekommen.

Haben Sie das angenommen?
Nein.

Und die dritte Kategorie?
Die haben mich offen abgelehnt. In der 7. Klasse beispielsweise haben Schulkameraden mir gesagt: »Jetzt ziehst du nach Wandlitz, jetzt kannst du Westsachen kaufen und Westklamotten tragen.«

Neider?
Würde ich nicht sagen. Bei uns wurde nur so getan, als würden alle Bürger gleich glücklich sein. Manche waren gleicher und glücklicher. Das mit den Westsachen hätte nicht sein müssen.

Nach seinem Tod sind Betriebe, NVA- und Kampfgruppeneinheiten nach Werner Lamberz benannt worden. Es gab einen »Werner-Lamberz-Gedächtnismarsch« der Gesellschaft für Sport und Technik.
Und im Internet kommunizieren heute noch Absolventen von Werner-Lamberz-Schulen miteinander.

Waren Sie bei Namensgebungen dabei?
Gelegentlich, aber das meiste hat Mutter mitgemacht.

Sie haben einen »Einheit«-Artikel erwähnt. Der soll auch Honecker in Rage gebracht haben.
Das habe ich auch gehört.

Honecker hat als FDJ-Chef Lamberz an seine Seite geholt. Wann kam es zum Bruch?
Vielleicht 1973/74, als Vater versuchte, die Dinge auf seine eigene Art und Weise anzugehen und zu vertreten. Er gehörte kurioserweise auch zu den wenigen aus der Parteiführung, die regelmäßig ins Theater oder ins Kino gegangen sind. Und er hatte persönliche Kontakte zu Künstlern. Es hat ihn geärgert, wenn diese als Idioten oder überdrehte Spinner bezeichnet wurden. Ich habe von ihm kein abfälliges Wort über Wolf Biermann gehört. Letztlich war ihm auch wichtig, dass Manfred Krug in der DDR blieb.

In dessen Villa hat sich Ihr Vater am 20. November 1976 der Aussprache mit den Künstlern gestellt, die eine Protestresolution nach Biermanns Ausbürgerung verfasst hatten. Seine Eigeninitiative?
Er hat darauf gedrängt, aber dies sicher abgesprochen. Sein Prinzip war, die Dinge vernünftig zu klären.

Das verband ihn mit Modrow.
Und anderes mehr. Als Hans Modrow Bezirkssekretär in Dresden wurde und sein Geburtstag anstand, wollten ihn Delegationen aus Betrieben und Institutionen feiern, wie es unter dessen Vorgänger Krolikowski üblich war. Hans Modrow hat die Gratulationen entgegengenommen und dann gesagt: »So, nun arbeiten wir weiter.«

Sie setzen sich heute für eine Europäische Linkspartei ein....
Richtig. Wir dürfen aber nicht die alten Fehler - Stichwort: Komintern und Kominform - wiederholen.

Waren Sie beim Initiativtreffen im Januar in Berlin dabei?
Ja. Es war beeindruckend, all diese klugen Männer der europäischen linken Bewegung zu erleben und zu hören: Wir wollen, wir müssen, wir können zusammenfinden... Und unter die Haut ging mir auch, als Fausto Bertinotti sagte: Wir müssen es schaffen, jedes Jahr gemeinsam nach Friedrichsfelde zu gehen.

Der Sohn über den Vater

Empfinden Sie es als eine Last, einen berühmten Vater zu haben?
Nein. Aber anfänglich musste ich mich daran gewöhnen.

Welche Stärken schätzen Sie an ihm?
Dass er sich seine Menschlichkeit bewahrt hat.

Welche seiner Schwächen lehnen Sie ab?
Als Jugendlicher meinte ich manchmal, dass er bestimmte Dinge zu eng gesehen hat, vielleicht sogar etwas dogmatisch. Beim Blick zurück relativiert sich der Vorwurf.

Welche seiner Eigenschaften würden Sie gern besitzen?
Seine Konsequenz, nichts unerledigt zu lassen.

Welche nicht?
Jeder Mensch hat seine eigenen Schwächen.

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Ja.ND: Alle Jahre im Januar ist bei der Liebknecht-Luxemburg-Ehrung in Berlin-Friedrichsfelde zu beobachten, dass - außer bei Karl und Rosa - die meisten roten Nelken an der Gedenktafel für Werner Lamberz liegen. Auch 25 Jahre nach seinem Tod. Wie erklären Sie sich das?
Lambertz: Ich höre immer wieder: Er war anders, wir haben viel von ihm gelernt, er hatte eine andere Art, politische Fragen anzugehen, auf die Menschen zuzugehen, hatte einen anderen Lebensstil.

Er war ein Hoffnungsträger.
Ich denke, dass sich das mit dem zeitlichen Abstand zur DDR ein wenig idealisiert. Die Leute glauben, er wäre derjenige gewesen, der alles hätte umkrempeln können.

Glauben Sie das nicht?
Ich bin skeptischer. Was nicht bedeutet, dass mein Vater nichts hätte bewirken können. Er hat versucht, inhaltliche Nuancen anders zu setzen. Auch wenn ich zu jener Zeit in Moskau studierte, so weiß ich doch, dass es harte Auseinandersetzungen gegeben hat. Unter anderem über die Schönfärberei und Hofberichterstattung im Journalismus. Vater war der Meinung, man muss den Leuten die Wahrheit sagen. Man kann sozialistische Politik nur mit den Köpfen der Menschen machen, braucht deren Begeisterung. Und diese ist nicht allein über den Konsum zu erreichen. Diese Argumentation - zum Beispiel in seinem Artikel in der »Einheit« zur Ideologie und Wirtschaftspolitik der SED - brachte ihm sehr viel Ärger ein, besonders mit Günter Mittag.

Hat der Sohn den Vater nicht als Hoffnungsträger gesehen?
Er war für mich vor allem mein Vater. Und letztlich hat er uns gegenüber, der Familie, die Politik der Partei zu vertreten versucht.

Zum Beispiel?
Wenn ich über die absolut unlesbare Seite Drei im ND hergezogen bin. Da hat er sie verteidigt.

Und hat er Sie überzeugt?
Mir klang das mehr nach Parteidisziplin: Man müsse über die Produktionsergebnisse an bedeutender Stelle im Zentralorgan berichten.

Als Ihr Vater 1976 den VEB Kranbau Eberswalde besuchte, sagte er den dortigen Arbeitern: »Politik wird nicht nur in Berlin gemacht.« Sie sei abhängig »von der guten oder weniger guten Arbeit in den Betrieben«. Er hat die Arbeiter nicht als das letzte Rädchen im Getriebe angesehen.
Ich weiß. Und wenn er in die Betriebe ging, sagte er: »Zeigt mir hier den schmutzigsten Arbeitsplatz.« Er hielt nichts von Potjomkinschen Dörfern. Das lag wohl daran, dass auch er ein Arbeiter war, gelernter Heizungsmonteur.

Arbeiter und Handwerker waren im Politbüro keine Ausnahme.
Stimmt. Aber manche Genossen haben vergessen, woher sie kamen. Vater hat uns Kindern vermittelt, dass man die Arbeit zu achten hat.

Hat er zu Hause von seinem Zoff im Politbüro erzählt?
Selten. Dafür war auch wenig Zeit. Neulich erst erinnerte ich mich in einem Gespräch mit meinen beiden Töchtern, dass wir mit Vater kaum gemeinsam Frühstück oder Abendbrot gegessen haben. Wenn ich aufstand, saß er schon am Schreibtisch, wenn wir Abendbrot aßen, war er noch im ZK.

Und wann hatte er Zeit für Sie?
Beim Sport und bei Spaziergängen. Vater ist gern geschwommen. Natürlich hatte er, wenn wir Probleme hatten, immer Zeit für uns.

Und da hat er Geschichten aus dem »Großen Haus« erzählt?
Er sprach nie über Interna.

Haben Sie bemerkt, wenn er Stress hatte?
Er war ein ausgeglichener Mensch. Aber ein Sohn spürt, wenn der Vater Sorgen hat. Er hat uns aber weitgehend aus seiner Arbeit rausgehalten.

Als Ihr Vater ins Politbüro kam, musste die Familie nach Wandlitz umziehen. Wie fanden Sie es dort?
Vulgär würde ich sagen: beschissen. Mich störten elementare Dinge. Zum Beispiel, dass ich von meinem Freundeskreis getrennt wurde. Meine Eltern haben mich unterstützt, dass ich meine Schule in Berlin-Friedrichshain weiter besuchen konnte. Aber man konnte sich mit den Freunden nicht mehr spontan verabreden, weil das Auto, das einen abholte, pünktlich vor dem Schultor stand. Für einen normalen jungen Menschen ist das belastend.

Aber das Leben in Wandlitz hat Ihren Vater nicht lebensfremd gemacht?
Nein. Wir waren die einzige Familie, die kein Jagdhaus und keine Datscha hatte. Natürlich haben wir auch den Laden in Wandlitz benutzt. Und Vater fuhr nicht Trabant, sondern Volvo. Was ich ihm als 14-, 15-Jähriger vorgehalten habe. Ich erinnere mich aber, wie ihm einmal auf der Leipziger Messe am Mifa-Stand neue Fahrräder vorgestellt wurden. Eine Woche darauf bekam er zwei ins ZK geschickt - sie sollten ein Geschenk sein. Er hat sich aber die Rechnung kommen lassen und bezahlt.

Sie studierten in Moskau am Institut für Internationale Beziehungen, IMO. Sie sind quasi in die Fußstapfen Ihres Vaters, den »Persönlichen Botschafter« Honeckers, getreten. Ihre Schwester auch?
Sie wurde Außenhändlerin. Aber diese berufliche Richtung haben wir nicht in dem Bewusstsein gewählt, etwas weiterführen zu müssen. Uns hat die Atmosphäre zu Hause geprägt, die Weltoffenheit meines Vaters, sein Interesse am internationalen Geschehen. Meine Schwester und ich sind im Ausland aufgewachsen. Vater war ab 1955 Vertreter der FDJ beim Weltbund der Demokratischen Jugend, WBDJ, in Budapest.

Sie waren im letzten Semester, als Ihr Vater in Libyen bei einem Hubschrauberabsturz starb. Wie erfuhren Sie von seinem Tod?
Am Tag, an dem er starb, hatte ich meine Vorbereitungen für die Diplomarbeit abgeschlossen: am 6. März 1978. Die Nachricht erhielt ich am Morgen danach. Ein Mitarbeiter der Botschaft kam zu mir in das Obscheschitje, ins Wohnheim. Ich flog nach Berlin.

Nach den Trauerfeiern mussten Sie noch das Studium abschließen.
Das war nicht einfach. Ich erfuhr aber Hilfe von Kommilitonen.

Die Spekulationen um den Absturz halten an. Unfall oder Abschuss? Zu den damals zu Tode Gekommenen gehörte auch ZK-Mitglied Paul Markowski....
Und der Dolmetscher Armin Ernst sowie der ADN-Fotograf Hans-Joachim Spremberg.
Und sieben Libyer, darunter hochrangige Politiker. Eigentlich wollte Staatschef Ghaddafi mitfliegen.
Sollte ihn ein Anschlag treffen? Oder hatte er selbst Widersacher zu beseitigen? Es soll Warnungen aus Moskau gegeben haben.
Es gibt verschiedene Versionen. Während der Wende hat die Modrow-Regierung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das wurde durch die Bundesanwaltschaft ergebnislos zu Ende geführt. Ich glaube, der Absturz kam manchem gelegen. Mancher hatte nun einen Widersacher weniger.

Westmedien behaupteten, Lamberz und Markowski seien Honecker und Mielke »unbequem« geworden.
Statt Honecker und Mielke könnte ich auch Mittag nennen. Ich weiß nur, es war ein Verlust. Nicht nur für die Familien.

Das klingt, als hätten Sie den Fall abgeschlossen?
Ich muss. Was soll ich denn machen? Der Kopf sagt: Hör auf.

Die Libyer haben auch nicht zur Aufklärung beigetragen?
Sie haben total gemauert: Es war Allahs Wille. Und Punkt.

Und die DDR-Behörden?
Alle Untersuchungen, so auch seitens des Chefs der Interflug, haben zu nichts geführt. Auch die Obduktion ergab keine Aufschlüsse.

Darüber hat sich das MfS die Kontrolle vorbehalten. Um Spuren zu verwischen?
Erich Mielke hat sich danach um uns sehr gekümmert und immer wieder nachgefragt, ob er helfen kann. Andere überhaupt nicht.

Wen meinen Sie?
Den Generalsekretär. Es war schon bedrückend: Erich Honecker und Werner Lamberz kommen aus einer gemeinsamen Jugendorganisation und haben sich eine ganze Zeit gut verstanden. Aber nach diesem 6. März 1978 war aus dem kollektiven Apparat der Parteiführung wenig Anteilnahme zu hören.

Hatten Sie schon damals einen Verdacht, dass die Version von einem Unglück nicht stimmt?
Völlig akzeptiert habe ich sie nicht. Weil es sich ja nicht um irgendein privates Flugzeug gehandelt hat. Dass Schlamperei schuld war, irgendwelche Hubschrauberteile nicht ordentlich gewartet oder die Piloten nicht nachtflugtauglich waren, erschien mir zu banal. Aber das Verhältnis zu Mielke war so, dass ich in dieser Richtung am wenigsten Verdacht schöpfte.

Und was vermutete Ihre Mutter?
Sie hatte eine ziemliche Wut auf jene, die daran beteiligt waren, dass Vater diesen Flug unternahm. Was nicht heißt, dass sie jenen vorwarf, ihn bewusst in den Tod getrieben zu haben. Die Reise nach Libyen ist kurzfristig, überraschend angesetzt worden. Und Vater war bereits vorher einmal in eine lebensbedrohliche Situation geraten.

Wie das?
1977 war er in Äthiopien. Mengistu hat zu ihm gesagt: »Wenn du das Land kennen lernen willst, dann steige ins Flugzeug, und dann zeige ich dir was.« Er ist ins Flugzeug gestiegen, und es gab irgendwelche Schwierigkeiten, die der Pilot aber noch meistern konnte.

Äthiopien lag damals im Clinch mit Somalia. Ist da ein solcher Flug nicht per se riskant?
Er war ein bisschen draufgängerisch. Viele schreiben das auch seinem rheinländischen Naturell zu.

Ihr Vater ist in Mayen, Rheinland, geboren worden - als Sohn des Bauarbeiters und KPD-Funktionärs Peter Lamberz, den die Nazis bereits 1933 verhaftet hatten.
Und der dann im KZ Sachsenhausen und Buchenwald saß. 1944 hat Großvater sich zum »Strafbataillon 999« gemeldet, um zur Roten Armee überzulaufen. Er war dann Beauftragter des Nationalkomitees »Freies Deutschland« im Baltikum.

Währenddessen besuchte Ihr Vater eine Adolf-Hitler-Schule, erst auf der Ordensburg Sontheim, dann Vogelsang in der Eifel. Hat er Ihnen von dieser Zeit erzählt?
Nein. Es gibt Fragen, die sich mir erst stellten, als ich nicht mehr mit ihm reden konnte.

Offenbar hatte seine Mutter ihn auf diese Weise schützen wollen. Sie ist 1946 gestorben, ohne ihren Mann wiederzusehen?
Die Nazis hatten meiner Großmutter gesagt, dass er wegen »Landesverrat« erschossen worden sei. Vater hat sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden gegeben und über das Rote Kreuz erfahren, dass er in Luckenwalde ist. Großvater war dort für die Bodenreform verantwortlich. Als Kind war er für mich fast eine Legende. Ein klassischer Kommunist. Oder, wie man heute sagt, Linksradikaler. Für ihn waren Kirchen nur dazu da, dass man sie in die Luft jagt. So radikal war mein Vater nicht. Aber er hat eine Kirche mit einer Roten Fahne behängt. Und in Kloster Zinna hat er das Denkmal vom Großen Fritz geschleift. Das war natürlich Unsinn.

War es für Sie förderlich, der Sohn von Werner Lamberz zu sein?
Jain. Es mag komisch klingen, aber ich hatte eine Phase, da habe ich mein Umfeld in drei Gruppen sortiert: Die einen verhielten sich mir gegenüber ganz normal, und das war angenehm. Dann gab es welche, da hatte ich immer das Gefühl: Die meinen, dich hofieren zu müssen, dir irgendwelche Vergünstigungen zu verschaffen. Beispielsweise in der Armeezeit. Da sollte ich plötzlich mehr Ausgang oder ein anderes Zimmer bekommen.

Haben Sie das angenommen?
Nein.

Und die dritte Kategorie?
Die haben mich offen abgelehnt. In der 7. Klasse beispielsweise haben Schulkameraden mir gesagt: »Jetzt ziehst du nach Wandlitz, jetzt kannst du Westsachen kaufen und Westklamotten tragen.«

Neider?
Würde ich nicht sagen. Bei uns wurde nur so getan, als würden alle Bürger gleich glücklich sein. Manche waren gleicher und glücklicher. Das mit den Westsachen hätte nicht sein müssen.

Nach seinem Tod sind Betriebe, NVA- und Kampfgruppeneinheiten nach Werner Lamberz benannt worden. Es gab einen »Werner-Lamberz-Gedächtnismarsch« der Gesellschaft für Sport und Technik.
Und im Internet kommunizieren heute noch Absolventen von Werner-Lamberz-Schulen miteinander.

Waren Sie bei Namensgebungen dabei?
Gelegentlich, aber das meiste hat Mutter mitgemacht.

Sie haben einen »Einheit«-Artikel erwähnt. Der soll auch Honecker in Rage gebracht haben.
Das habe ich auch gehört.

Honecker hat als FDJ-Chef Lamberz an seine Seite geholt. Wann kam es zum Bruch?
Vielleicht 1973/74, als Vater versuchte, die Dinge auf seine eigene Art und Weise anzugehen und zu vertreten. Er gehörte kurioserweise auch zu den wenigen aus der Parteiführung, die regelmäßig ins Theater oder ins Kino gegangen sind. Und er hatte persönliche Kontakte zu Künstlern. Es hat ihn geärgert, wenn diese als Idioten oder überdrehte Spinner bezeichnet wurden. Ich habe von ihm kein abfälliges Wort über Wolf Biermann gehört. Letztlich war ihm auch wichtig, dass Manfred Krug in der DDR blieb.

In dessen Villa hat sich Ihr Vater am 20. November 1976 der Aussprache mit den Künstlern gestellt, die eine Protestresolution nach Biermanns Ausbürgerung verfasst hatten. Seine Eigeninitiative?
Er hat darauf gedrängt, aber dies sicher abgesprochen. Sein Prinzip war, die Dinge vernünftig zu klären.

Das verband ihn mit Modrow.
Und anderes mehr. Als Hans Modrow Bezirkssekretär in Dresden wurde und sein Geburtstag anstand, wollten ihn Delegationen aus Betrieben und Institutionen feiern, wie es unter dessen Vorgänger Krolikowski üblich war. Hans Modrow hat die Gratulationen entgegengenommen und dann gesagt: »So, nun arbeiten wir weiter.«

Sie setzen sich heute für eine Europäische Linkspartei ein....
Richtig. Wir dürfen aber nicht die alten Fehler - Stichwort: Komintern und Kominform - wiederholen.

Waren Sie beim Initiativtreffen im Januar in Berlin dabei?
Ja. Es war beeindruckend, all diese klugen Männer der europäischen linken Bewegung zu erleben und zu hören: Wir wollen, wir müssen, wir können zusammenfinden... Und unter die Haut ging mir auch, als Fausto Bertinotti sagte: Wir müssen es schaffen, jedes Jahr gemeinsam nach Friedrichsfelde zu gehen.

Der Sohn über den Vater

Empfinden Sie es als eine Last, einen berühmten Vater zu haben?
Nein. Aber anfänglich musste ich mich daran gewöhnen.

Welche Stärken schätzen Sie an ihm?
Dass er sich seine Menschlichkeit bewahrt hat.

Welche seiner Schwächen lehnen Sie ab?
Als Jugendlicher meinte ich manchmal, dass er bestimmte Dinge zu eng gesehen hat, vielleicht sogar etwas dogmatisch. Beim Blick zurück relativiert sich der Vorwurf.

Welche seiner Eigenschaften würden Sie gern besitzen?
Seine Konsequenz, nichts unerledigt zu lassen.

Welche nicht?
Jeder Mensch hat seine eigenen Schwächen.

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Ja.

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