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  • Kultur
  • Zwei Biographien über ANNA ACHMATOWA

In der Klage das Aufbegehren

  • Lesedauer: 4 Min.

„Klagende Muse“ hat Jossif Brodskij seinen Essay (1982) über Anna Achmatowa überschrieben, den die Herausgeber der Biographie von Amanda Haight hinzugefügt haben. „Auf das Jahrhundert Anna Achmatowas“ heißt ein Brodskij-Gedicht aus dem Jahre 1989 - es steht am Ende des Buches von Jelena Kusmina. Der junge Brodskij gehörte zu dem engsten Kreis der Dichter und Freunde, die Anna Achmatowa im hohen Alter bewundernd und lernend umgaben, die sie zu Grabe trugen. Nimmt man den Untertitel der Biographie Jelena Kusminas hinzu. „Ein Leben im Unbehausten“, dann läßt sich der Lebensweg Anna Achmatowas kaum besser benennen.

-,;Kla-gende Muse“,– sagt Brodskij, nicht trauernde, in def°Klage'liegt das Aufbegeh“ ren, das Sich-nicht-Beugen, die letztlich ungebrochene Würde einer Frau und ihrer makellosen Dichtung, die mit dem eigenen Schmerz dem aller anderen Frauen des Jahrhunderts die Stimme verleiht. In einem Gedicht Anna Achmatowas heißt es: „Alle sind fortgegangen und niemand ist zurückgekehrt... Sie beschmutzten das allerreinste Wort... Sie trennten mich von meinem einzigen Sohn... Ich werde als Wahnsinnige der Stadt/ auf stii! gewordenen Plätzen .umherstreifen.“ (Übertragung aus der Biographie von Amanda Haight). Man gerät in Versuchung, auch in einer Besprechung der Biographien die klassisch schöne Lyrik zu zitieren.

Die Verfasserinnen beider Lebensbeschreibungen haben die Gedichte in ihre Texte verwoben. Und die Gedichte werden jeweils in wortgetreuer, interlinearer Übersetzung wiedergegeben, was ausgesprochen zu begrüßen ist, da der Leser so einen ganz ursprünglichen Eindruck von der Dichtung erhält. Amanda Haight gibt immer zugleich mit der

Von SABINE NEUBERT

Amanda Haight: Anna Achmatowa. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Margitt Lehbert. Mit einem Essay von Jossif Brodskij. Oberbaum Verlag. 364 S.. geb., 44 DM. Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Aus dem Russischen von Swetlana Geier Rowohlt Berlin. 351S., geb., 49 DM.

Darstellung der Lebensabschnitte auch eine Deutung der Gedichte, was wohl daher rührt, daß das Buch aus einer Dissertation entstanden ist. Diese Darstellungsweise hat Vor- und Nachteile. Das Buch erhält so eine gleichmäßige Struktur, läßt aber dem Leser weniger Raum für, eigene Assoziation'e1i7^dem t wsein r Stil (oder. (^gjßjj.ejcse.tzung?) Jeider zuweilen etwas trocken. Trotzdem muß diese deutsche Ausgabe zwanzig Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung als Verdienst gewürdigt werden, weil Amanda Haight noch selbst mit Anna Achmatowa gesprochen hat und ihre Darstellung unmittelbar unter diesem Eindruck entstand. Jelena Kusmina bezieht sich unter anderem auch auf die Mitteilungen von Amanda Haight und erzählt, daß die russische Dichterin zu der englischen Slawistin großes Vertrauen gehabt habe.- „Achmatowa hat ihr viel diktiert oder ihr einfach von ihrem Leben und von ihren Gedichten erzählt.“

Das Erscheinen beider Biographien gleichzeitig in Deutschland kann die literarische Öffentlichkeit ohne weiteres verkraften, ist doch bisher vieles aus dem Leben der Achmatowa und ihrer Dichtung nur bruchstückhaft bekannt gewesen. Der vielleicht größte und erschütterndste Gedichtzyklus „Requiem“ erschien in der BRD erst 1989, als er auch erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht wurde (rund dreißig Jahre nach Achmatowas Tod).

Das Leben, das die'Biographien beschreiben, könnte insgesamt mit einer Kapitelüberschrift von Jelena Kusmina benannt werden: „Den Schmerz in Kraft umschmelzen“. Lebensstationen können nur in Stichworten genannt werden: Weltkrieg, Revolution, Stalinismus, „Säuberungen“, Besetzung. Der erste Mann, der Lyriker Nikolai Gumiljow, wurde 1921 erschossen, Nikolai Punin, den die Achmatowa in dritter Ehe heiratete, kam 1953 im Lager um wie vorher viele Freunde, unter ihnen Mandelstam und Pilnjak. Ihr einziger Sohn mußte achtzehn Jahre in Haft verbringen. In „Requiem“ beschreibt sie das Leid einer Frau, deren Sohn verhaftet ist und die mit einem Päckchen für ihn vor dem Gefäiigsnistor wtfrtet. <**s« i * J > «*

,, B Von 1923 &$,zu ihrem-Tod 1966 hat Anna Achmatowa keinen einzigen Band veröffentlichen können. Sie lebte „unbehaust“ und trug ihre Gedichte in einer kleinen Schatulle bei sich. Einiges schrieb sie zunächst nicht auf, unter anderem die Gedichte zu „Requiem“ Wären sie gefunden worden, hätte das ihren und den Tod des Sohnes bedeuten können. Erst später hat sie es mühsam rekonstruiert. All dies ist nun in den Biograp.hien nachzulesen - bei Jelena Kusmina noch vollständiger als bei Amanda Haight.

Kusmina, Mitarbeiterin am neugegründeten Achmatowa-Museum in St. Petersburg, hat ein brillantes, spannendes und fast atemlos zu lesendes Buch geschrieben, in das sie bisher noch nicht veröffentlichte Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen der Dichterin eingebaut hat. Dazu enthält das Buch sehr viele (ebenfalls bisher noch unveröffentlichte) Fotos, die eine Ergänzung zu den Abbildungen der anderen Biographie bilden. Das Buch fordert geradezu heraus, die Gedichte einer der größten Dichterinnen unseres Jahrhunderts ganz neu zu lesen.

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