Hitler muss beseitigt werden!

Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 - Aktion, Akteure und Ambitionen

  • Prof. Dr. Kurt Finker
  • Lesedauer: 10 Min.
Die Bombe verfehlt ihr Ziel. Vier Personen werden von der Sprengladung getötet, die am 20. Juli 1944 um 12.42 Uhr detoniert - während einer Lagebesprechung im Führerhauptquartier »Wolfsschanze« bei Rastenburg (Ketrzyn) in Ostpreußen. Hitler erleidet nur leichte Verletzungen.
Dies wissen die Attentäter, Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, ein Ururenkel des preußischen Heeresreformers Neidhart von Gneisenau, sowie sein Ordonnanzoffizier Oberleutnant d.R. Werner von Haeften noch nicht, als sie nach Berlin zurückfliegen. Dort, im Oberkommando des Heeres in der Bendlerstraße, beginnen inzwischen die Vorbereitungen für die Übernahme der Macht durch Wehrmachtseinheiten. Die führenden Akteure sind: General Friedrich Olbricht, Generaloberst a. D. Ludwig Beck und Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim.

Der entscheidende Tag

Panzer und motorisierte Infanterie aus Krampnitz und Döberitz rücken in die Innenstadt ein. Berliner Einheiten sichern das Gebäude des OKH. Es ergehen - mit fataler Zeitverzögerung! - vorbereitete Order an die Befehlshaber der Wehrkreise und der okkupierten Gebiete: Übernahme der vollziehenden Gewalt, Ausschaltung der SS-Einheiten, Verhaftung aller führenden Personen der NSDAP, der SS, der Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD), Unterbindung aller politischen Aktivitäten. Gegner der Aktion, wie der Oberbefehlshaber des Ersatzheeres Generaloberst Fritz Fromm, werden verhaftet.
In Paris lassen der Militärbefehlshaber General Carl-Heinrich von Stülpnagel und sein mitverschworener Adjutant, Oberstleutnant d.R. Cäsar von Hofacker (ein Vetter Stauffenbergs), über 1000 Angehörige des SD und der Gestapo festsetzen. Auch in Wien kommen die obersten Naziführer in Arrest.
In den meisten Wehrkreisen jedoch werden die Befehle nicht ausgeführt: Mehrere Kommandierende Generäle sind nicht anwesend, deren Vertreter zeigen sich irritiert, halten die Befehle für absurd und erkundigen sich bei der zuständigen Gauleitung der NSDAP.
In Berlin wird der Befehl des Standortkommandanten Generalleutnant Paul von Hase, Minister Dr. Joseph Goebbels zu verhaften, vom Kommandeur des Wachregiments Major Otto Ernst Remer nicht ausgeführt. Im Gegenteil, dieser geht gegen die Aufständischen vor. Die Rundfunkanlagen in Königs Wusterhausen werden zwar besetzt, die SS-Wachen entwaffnet, aber der Sender nicht in den Dienst des Aufstandes gestellt - obwohl Rundfunkaufrufe vorbereitet sind.
Am Abend des 20. Juli können sich Hitler treue Offiziere im Bendlerblock zum Gegenstoß sammeln und die Verschwörer gefangen nehmen. Stauffenberg, Olbricht, Beck, Haeften und Mertz von Quirnheim werden noch in der Nacht zum 21. Juli erschossen.

Das langsame Erwachen

Das Attentat vom 20. Juli war keine spontane Aktion. Zu deren Vorgeschichte gehört, dass die ersten Maßnahmen des Naziregimes wie die Aufrüstung und schrittweise Beseitigung des Versailler Vertrages sowie der Anspruch auf deutsche Weltmachtstellung die Zustimmung der Generäle und bürgerlichen Politiker finden. Im Gegensatz zu jenen stehen Zehntausende von Kommunisten und Sozialdemokraten - ungeachtet mancher Fehleinschätzungen ihrer Parteiführungen - sowie viele christliche und liberale Demokraten von Anfang an in einem grundsätzlichen Kampf gegen den faschistischen Terror und die sich stabilisierende Nazidiktatur. Bereits im März 1933 sind über 20000 Antifaschisten in Konzentrationslagern und Zuchthäusern inhaftiert. Dies wird von der Kaste der Großbourgeoisie, den Großgrundbesitzern, Offizieren und Beamten zunächst nur marginal zur Kenntnis genommen. Erst allmählich ruft die terroristisch-demagogische und aggressive Politik auch bei einigen Militärs, konservativen Politikern und Großkapitalisten Sorge hervor.
Heeresgeneralstabschef Beck tritt 1938 zurück, weil er angesichts des geplanten Krieges gegen die Tschechoslowakei das Eingreifen Englands und Frankreichs fürchtet. Um ihn sammelt sich eine Gruppe von höheren Offizieren und Beamten, die der Politik der Hitler-Göring-Himmler-Führung ablehnend gegenüberstehen.
Der konservative Dr. Carl Goerdeler, seit 1930 Oberbürgermeister von Leipzig, gibt 1937 sein Amt auf, knüpft Verbindung zu Beck, hat Beziehungen zum Elektro-Konzern Bosch-AG in Stuttgart und unternimmt - finanziert vom Krupp-Konzern - informative Auslandsreisen. Gleichzeitig findet er Kontakte zu Oppositionellen verschiedener, vor allem konservativer Richtungen, so zu Prof. Dr. Johannes Popitz, 1933 von der NS-Führung als preußischer Finanzminister eingesetzt, sowie zu Ulrich von Hassell, 1932 bis 1938 deutscher Botschafter in Rom und 1938 von Ribbentrop abberufen. Aber auch zu Sozialdemokraten und bürgerlichen Demokraten wie Wilhelm Leuschner (1932 stellvertretender Vorsitzender des ADGB, der wiederum in enger Verbindung mit dem ehemaligen sozialdemokratischen Jugendpolitiker Hermann Maaß steht), zu Dr. Julius Leber sowie zu Jakob Kaiser, einem der Führer der christlichen Gewerkschaften.
Eine weitere Gruppe von oppositionellen Beamten, Offizieren, Geistlichen sowie sozialdemokratischen Politikern sammelt sich seit 1940 um den schlesischen Gutsbesitzer und Juristen Helmuth James Graf von Moltke, Urgroßneffe des preußischen Feldmarschalls und Generalstabschefs Helmuth Carl Bernhard von Moltke, sowie um den schlesischen Gutsbesitzer und Oberregierungsrat Dr. Peter Graf Yorck von Wartenburg, Vetter Stauffenbergs und Ururenkel des Generals Graf Hans David Ludwig von Wartenburg, der 1812/13 die Konvention von Tauroggen abgeschlossen hatte. Diese Gruppe ist unter dem Namen Kreisauer Kreis bekannt geworden. Auch beim Stab des Befehlshabers in Frankreich gibt es eine kleine Gruppe Hitler feindlicher Offiziere unter Führung Stülpnagels und Hofackers. In all den Gruppen setzt sich die Auffassung durch, dass Hitler beseitigt und der abenteuerliche Kriegskurs beendet werden muss.
Entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Opposition gewinnen die militärischen Ereignisse: die Siege der Roten Armee vor Moskau 1941/42, in Stalingrad 1942/ 43, bei Kursk im Sommer 1943 und die Belorussische Operation im Juni 1944, die die Heeresgruppe Mitte zerschlug; des Weiteren die Eroberung Nordafrikas durch die Alliierten bis Mai 1943 und deren erfolgreiche Landung an der französischen Küste am 6. Juni 1944. Von Bedeutung ist vor allem, dass sich 1942/43 eine Gruppe jüngerer Offiziere - 1933 noch Anhänger der »nationalsozialistischen Revolution« - angesichts der militärischen Entwicklung und inzwischen auch in Kenntnis von NS-Verbrechen zum Handeln entschließt.
Im Stab der Heeresgruppe Mitte formiert sich eine aktive Gruppe unter Führung des Generalmajors Henning von Tresckow. Sie unternimmt bereits im März 1943 einen Attentatsversuch auf Hitler. Eine zweite Gruppe bildet sich im OKH und beim Heeresgeneralstab in Zossen/Wünsdorf unter Leitung der Generäle Olbricht, Fritz Lindemann, Helmuth Stieff und des Obersten Mertz von Quirnheim, eines Schwagers des Generals Dr. Otto Korfes, der 1943 in der Sowjetunion zu den Gründern des Bundes Deutscher Offiziere gehört. Durch Stauffenberg gewinnt diese Gruppe an Einfluss, denn jener beschränkt sich nicht nur auf die Aktion, sondern erörtert mit bürgerlichen und sozialdemokratischen Politikern, insbesondere mit Leber, auch schon politische und soziale Fragen der künftigen Gestaltung Deutschlands.
Ehemalige SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre wiederum sind bemüht, in den Widerstandsgruppen der Arbeiterbewegung eine Basis für den geplanten Umsturz zu schaffen, so der sozialdemokratische Pädagoge Prof. Dr. Adolf Reichwein, der Verbindungen zu Kommunisten hat und zum Kreisauer Kreis gehört. Aus SPD- und KPD-Mitgliedern bestehende illegale Gruppen, insbesondere im Raum Berlin, in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg, Hamburg, Hessen und im Rhein-Main-Gebiet, sind allgemein über das Vorhaben informiert und warten auf das Signal.

Die diversen Zukunftspläne

Über die künftige Gestaltung Deutschlands existieren freilich gegensätzliche Vorstellungen. Beck wünscht sich eine »Einheitspartei von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten«. Andere erwarten eine föderativ aufgebaute Volksbewegung mit den vier Hauptgliedern: Liberale, Christen, Sozialdemokraten, Kommunisten. Vorherrschend aber ist die Vorstellung von drei großen »Volksparteien«: Christen, Liberale, Sozialdemokraten (ohne Kommunisten!) Im Kreisauer Kreis lehnt man das Parteiensystem grundsätzlich ab und ist der Meinung, die christlichen Kirchen und eine einheitliche »Deutsche Gewerkschaft« sollten die Grundlage der neuen Gesellschaft bilden. Stauffenberg, Yorck, Regierungspräsident Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, Leber und Reichwein treten für Kontaktaufnahme mit den illegal in Berlin kämpfenden Kommunisten ein, zu der es im Juni 1944 auch kommt, die aber keine Auswirkungen hat, weil alle Beteiligten alsbald verhaftet werden.
Bezüglich der künftigen Regierung und Staatsform vertreten Goerdeler, Popitz, Hassell und einige andere die Idee einer konstitutionellen Monarchie. Es gibt Kontakte zum Kaiserenkel Louis Ferdinand Prinz von Preußen. Stärker ist die Vorstellung von einer konservativ-rechtsstaatlich verfassten Republik mit einigen Rechten und Freiheiten für die Volksmassen, dominiert aber durch die »Eliten« des Großkapitals, des Großgrundbesitzes, des Militärs und der Beamtenschaft. Auf Grund der Erfahrung, dass die Massenverelendung 1929 bis 1933 wesentlich zum Erfolg der Nazidemagogie, aber auch zum Stimmengewinn der KPD beigetragen hat, soll der künftige Staat eine gewisse »Sozialpolitik« betreiben. So finden das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung Eingang in die Erklärungen der Sozialdemokraten, christlichen Demokraten und des Kreisauer Kreises.
Während einige bereit sind, der alliierten Forderung nach bedingungsloser Kapitulation nachzukommen (Leber, Leuschner, Maaß), hoffen andere (Hassell, Goerdeler, Stauffenberg und der erst im Sommer 1944 zur Opposition gestoßene Generalfeldmarschall Erwin Rommel), mit den Westmächten Waffenstillstand schließen und die Ostfront vorerst halten zu können. Der Diplomat und Angehörige des Kreisauer Kreises Dr. Adam von Trott zu Solz und der deutsche Vizekonsul in Zürich Dr. Hans Bernd Gisevius unterhalten informative Verbindungen zu Allen Welsh Dulles, dem Leiter des amerikanischen Geheimdienstes für Europa in Bern.
Unterschiedlich positionieren sich die »Verschwörer« gegenüber dem im Juli 1943 in der Sowjetunion gegründeten Nationalkomitee »Freies Deutschland« und dem im September 1943 entstandenen »Bund Deutscher Offiziere«. Während das »Manifest« des NKFD »an die Wehrmacht und an das deutsche Volk« ein Teil der Verschwörer (auch Stauffenberg) als »Landesverrat« ablehnt, sehen andere hier die Möglichkeit zum - wenn auch zeitweiligem - Bündnis (so Goerdeler, Lindemann, Mertz von Quirnheim, Hofacker).

Die Rache des Regimes

Das Scheitern des Unternehmens löst eine neue, gewaltige Terrorwelle aus. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Attentatsversuch fallen dieser etwa 160 bis 180 Menschen zum Opfer: 110 Hitlergegner werden hingerichtet, 15 in den Selbstmord getrieben, andere ohne Gerichtsurteil ermordet. Zu den Opfern gehört auch der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, der auf direkte Weisung Hitlers am 18. August 1944 im KZ Buchenwald erschossen wird.

Die geteilte Erinnerung

Der 20. Juli 1944 war ein vielschichtiges Ereignis und bietet darum bis heute sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation und der Bewertung.
Vom Nationalkomitee »Freies Deutschland« war die Aktion sogleich mit einem Aufruf am 23. Juli 1944 gewürdigt worden: »Nun sind auch in Deutschland verantwortungsbewusste Generale zum Sturm gegen Hitler angetreten... Jetzt muss der Sturm im ganzen Volk entfacht werden. Alle Waffen der Wehrmacht, alle Kraft im Lande zum Einsatz gegen Hitler und seine Mitverschworenen für die Rettung der Nation.« Auch in anderen Ländern begrüßten deutsche Antifaschisten die Aktion, so in Frankreich, wo Hofacker am Umsturzversuch beteiligt war.
In der Sowjetischen Besatzungszone fand der erste Jahrestag 1945 bemerkenswerte Resonanz. Alle vier großen Ostberliner Zeitungen - »Deutsche Volkszeitung« (KPD), »Das Volk« (SPD), »Neue Zeit« (CDU), »Berliner Zeitung« - würdigten den 20. Juli als antifaschistische Tat. Nur in der »Täglichen Rundschau«, Organ der Sowjetischen Militäradministration, fanden sich abwertende Worte, die ab 1946 bestimmend werden sollten. Im Zuge der von der SED-Führung seit 1947/48 betriebenen Durchsetzung der »führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei« gerieten nichtkommunistische Antifaschisten an den Rand des Geschichtsbildes. In den 60er und 70er Jahren erarbeiteten jedoch DDR-Historiker, gegen manchen Widerstand, ein realistischeres Bild und werteten den 20. Juli als bedeutenden Teil des antifaschistischen Widerstandskampfes, wobei sie gleichzeitig feststellten, dass ein Erfolg des Umsturzes wohl noch keine demokratische Republik gebracht hätte.
In den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik gab es zwei Tendenzen. Zunächst galten die Verschwörer zumeist als »Eidbrüchige« und »Landesverräter«. Doch im Zuge der Konstituierung der Bundesrepublik (mit 21 NS-Ministern und Staatssekretären) und deren Einbeziehung in das westliche Bündnis bedurfte dieser Staat einer Anti-Hitler-Legitimation, die zugleich antikommunistisch sein sollte. Hier boten sich die Konservativen des 20. Juli an, waren sie doch geeignet, »die eher peinliche Tatsache zu verdecken, dass zwischen den ehemaligen aktiven Widerstandskämpfern und dem neuen politischen Führungspersonal der Bundesrepublik eine nur sehr schwache Verbindung bestand«, wie der renommierte Münchener Historiker Martin Broszat einst bemerkte.
Bereits 1945 hatte Dr. Marion Gräfin Dönhoff, die einige der adligen Verschwörer persönlich gut gekannt hatte, erklärt: »Zum ersten Mal jährt sich der Tag, an dem Deutschland mit einem Schlage seine besten, seine letzten wirklichen Patrioten, verloren hat.« In diesem Sinne werden in der Bundesrepublik bis heute die »Verschwörer« vom 20. Juli fast ausschließlich (neben den Geschwistern Scholl) als die einzig edlen Widerstandskämpfer gewürdigt.


Unser Autor hat seit seiner Stauffenberg-Biografie (1967) zahlreiche weitere Publikationen zum Thema verfasst und mit vielen Angehörigen der Attentäter gesprochen, darunter mit Nina Gräfin von Stauffenberg, Freya Gräfin von Moltke, Charlotte Gräfin von der Schulenburg, Marion Gräfin Yorck von Wartenburg, Hauptmann Hans Fritzsche sowie mit Franz und Ludwig von Hammerstein.
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