Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Geschichte als Spekulationsobjekt

  • Lesedauer: 2 Min.

Viktor Suworow, geboren kurz nach dem Weltkrieg, Absolvent u.a. der Diplomatischen Militärakademie in Moskau, als Offizier des militärischen Geheimdienstes GRU Diplomat in Westeuropa, bat 1978 um politisches Asyl in England und betreibt seitdem militärhistorische Forschungen. Sein neues Buch versteht sich als Fortsetzung seines 1989 erschienenen Bandes „Der Eisbrecher“, in dem Suworow die Existenz einer langfristigen, ideologisch begründeten Angriffsabsicht Stalins gegen Deutschland nachzuweisen suchte. Im „Tag M“, dem Tag der Mobilmachung, sollen diese Thesen detailliert in 25 Bei-' trägen untermauert und ihnen die wohl für notwendig befundene Beweiskraft verliehen werden. Der Kern der Aussage läßt sich in einen Satz fassen: Der 19. August 1939, der Tag, an dem in der Sowjetunion die geheime Mobilmachung befohlen wurde, ist für den Autor „der Tag, an dem Stalin den Zweiten Weltkrieg auslöste. Die heimliche Mobilmachung sollte mit dem Angriff auf Deutschland und Rumänien am 6. Juli 1941 abgeschlossen werden.“ (S.330)

Neue Quellen werden für die Beweisführung nicht herangezogen. Braucht der Verfasser aus seiner Sicht auch nicht. Aus den in der Sowjetunion veröffentlichten Erinnerungen und Darstellungen glaubt er genug Beweise schöpfen zu können, die bei seiner scharfsinnigen Analyse den einzigen Schluß zulassen, daß Stalins gewaltige Aufrüstungskampagne Hitler gar keine andere Wahl ließ, als Sowjetrußland am 22. Juni 1941 präventiv zu

Victor Suworow: Der Tag M. Aus dem Russischen von Hans Jaeger Klett-Cotta, Stuttgart 1995. 345 S., 12 Abb., geb., 48 DM.

überfallen. Wer an Suworows Behauptungen glaubt, wird weitere Argumente für den Stalinschen Welteroberungsfahrplan aus diesem Buch klauben können, wer an der Ernsthaftigkeit solcher historischer Beweisführung zweifelt, wird nach der Lektüre in seiner Skepsis bestärkt sein. Sie dokumentiert nämlich einmal mehr, daß sich hinter scheinbar- ' seriöser“ Analyse 1 histori-' sehe Scharlatahe/rie' Verbirgt.

Ein einziges Beispiel möge dies illustrieren: Unter der Überschrift „Weshalb verzichtete Stalin auf seine strategischen Fliegerkräfte?“ behauptet der Verfasser, daß die UdSSR mit der TB 7 lange vor dem Krieg nicht nur ein unverwundbares Bombenflugzeug besaß, was bei aller Wertschätzung der sowjetischen Flugzeugindustrie eine pure Legende ist, sondern darüber hinaus auch, daß 1000 TB 7 Stalin 1939 in die Lage versetzten, wenn er nur gewollt hätte, „den ganzen Zweiten Weltkrieg verhindern (zu) können“ (S.24). Was soll eine solche Beweisführung, eingedenk der Tatsache, daß es selbst 6 000 bis 7 000 schwere alliierte Bomber nicht schafften, Deutschland aus dem Krieg zu bomben? Mit derartigen Hypothesen wird Geschichte zu einem voluntaristischen Spekulationsobjekt degradiert, das nach Belieben, Gefallen und Wunsch gefügt wird.

OLAF GROEHLER

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.