Ach, diese ewige Hast!

Heute wäre Wassili Schukschin 75 Jahre alt geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Auf manchen Fotos, die diesen gekerbten Mann zeigen, lässt uns dessen Gesicht herausfordernd im Unklaren: Erwartet es den Sturm des Lebens, oder ist der soeben schon, wütend und wüstend, vorübergezogen? Schaut dieser Mann in trotziger männlicher Erwartung? Oder hat er das Entscheidende bereits überstanden? So hart, dieses Gesicht, und doch von einer tief anrührenden Traurigkeit. Ihm ist etwas Einmaliges zugestoßen: Leben. Ich denke immer an den roten Holunder, an den Film »Kalina Krassnaja«: Wassili Schukschin als Jegor Proskudin. Sträfling, in der Stadt einst auf die schiefe Bahn geraten, heimkehrend ins Dorf. Zu Ljuba, die seelisch Mensch blieb, obwohl auch sie so viel durchmachen musste. Jegors Arbeit mit dem Pflug. Die weite Landschaft, vor allem die Birken, mit denen der kahl Geschorene Zwiesprache hält wie mit vertrauten Menschen. Wie die Kamera da plötzlich ruhig wird und jedes Bild so geduldig; die Montage verliert ihre sonstige Hektik, ihre berechtigte Nervosität, denn Jegor ist ein Getriebener, sprunghaft, hin- und hergerissen zwischen Brutalität und Zärtlichkeit, zwischen Kaltschnauze und zartem Wort. Am Ende stirbt er, der Tod wartet gern an Scheidewegen auf den Menschen, dort, wo ein Licht lockt. Heute wäre der Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler Wassili Schukschin aus dem fernen Altai - wo Steppe, Fluss und Berg aufeinandertreffen - 75 Jahre alt geworden. Gestorben ist er vor dreißig Jahren, mitten in den Dreharbeiten zu Sergej Bondartschuks Film »Sie kämpften für die Heimat«, nach dem Roman von Konstantin Simonow. Namen aus einer anderen Zeit. Erinnerung an eine Kunst, die wehmütig stimmt, weil man über sie schreibt, als trete man an ein Grab. Schukschin, sein Werk: auch so ein Grab des unbekannten Schriftstellers? »Es war einmal im Dorf Tschebrowka ein gewisser Sjomka Rys, ein Liedrian, ein unübertrefflicher Tischler.« So beginnt die Erzählung »Der Meister«, 1975 erschienen bei Volk und Welt. Direkt geht's los, und das Gute ist immer verliebt in das, was zerstört. Das Sittliche säuft gern und schlägt zu, und wer als Stein gilt, zitiert Puschkin und kann weinen. Liedrian und Meister - eine Einheit, ganz selbstverständlich. Schukschins Gesicht hat Falten des Widerstandes, auf der gefurchten Stirn und um die Mundwinkel herum; was vom Grübeln erzählt, das erzählt immer auch vom Lachen - und so sind auch seine Geschichten. Von spontanen, elementaren, unberechenbaren Menschen, an der Grenze zur Anarchie, immer in der Gefahr des Strauchelns, aber bei ihrem Schöpfer Schukschin stets in sorglicher, verständiger Obhut. Er hat die Freiheit der Seltsamen verteidigt gegen das straff reglementierte Menschenbild staatlichen Zuschnitts, er hat das so genannte einfache und bescheidene Leben porträtiert und im Gegenzug die Spießer und Schmarotzer karikiert, die im Schatten aller Obrigkeiten gedeihen; Stepan Rasin, über den er einen Roman schrieb, war sein Lieblingsheld; immer wieder jedoch wurde ihm eine Verfilmung verweigert. Schukschin, Kolchosarbeiter und Kfz-Schlosser mit spätem Abitur, Sewastopoler Matrose und kurzzeitiger Mathematikstudent, ging in die Regieklasse von Michail Romm (»Neun Tage eines Jahres«, »Der gewöhnliche Faschismus«). Der Bauer inmitten von Privilegierten. Der Dörfler gleichsam unter Adligen. Mit Stiefeln in die Intelligenzija hinein. Schukschin in der eigentlichen Lebensschule, in der es nie Ferien gibt: Immer gibt es die Tonangeber, die deshalb den Ton angeben, weil es ihnen an Gabe fehlt. »Aber ich habe gewartet, einfach gewartet. Wie ein Boxer. Ich wusste genau, dass ein Moment eintreten würde, da ich mehr zu sagen hätte als all diese Aufschneider mit ihren Kunstdeklarationen. So lebe ich: Ich halte in mir einen zweiten Menschen verborgen, einen geheimen Kämpfer. Der weiß, wann seine Stunde kommt.« Sie kam. Wurde zu höchst produktiven Jahren. Filme, Stücke, Erzählungen. Ein gieriger, neugieriger Verschleiß in so vielen Gattungen. Bis er selber nach Atem rang. »Ich habe mich von der Hast anstecken, verstricken lassen. Schluss! Es ist an der Zeit, mein Leben von Grund auf zu ändern. Wahrscheinlich werde ich etwas aufgeben müssen, den Film oder das Theater oder die Schauspielerei. Vielleicht auch Moskau... Ach, diese ewige Hast!« Der verflucht bittere Lohn dieser Umkehr aus zu schnellem Leben, die wohl zu spät kam: Unzählige Menschen bei der Beerdigung. Auf dem zu Sowjetzeiten gesperrten Friedhof Nowodewitschje, dem Moskauer Jungfrauenfriedhof der Berühmtheiten. Auf dem Grab der rote Holunder, die rote Schneeballbeere, Kalina Krassnaja. Es gibt einen Abstandsraum zwischen dem, was wir sind und dem, was wir sein wollen. Zwischen dem, was wir sagen und dem, was unsere Worte wirklich bedeuten. Dieser Zwischenraum ist der Schmerz, den der Dichter mit seinen Erzählungen füllt. Wie ein Zahnarzt. Auch das Seelenloch braucht Füllungen. Manche halten sehr lange, was immer man später zu kauen und wegzulächeln hat. Schukschin ist so ein Fall von Haltbarkeit. Er wird nicht mehr verlegt hier zu Lande. Seine Filme stehen in keinem Kanon der Wichtigkeiten. Aber wer sich an ihn erinnert, wie man an etwas nicht Vergangenes denkt - der ist mit einem Male wieder dort, wo dieses Werk in der Naturgeschichte des eigenen Lebens wie ein Gewitter heraufzog. Und blitzte. Ja, dort ist man plötzlich wieder. Und weiß, dass man auf keinem anderen Wege mehr hinkommen könnte an den Ereignisort. Vorbei. Und also ist man jetzt bei Schukschin näher als vielleicht damals. Weil man ihn damals hörte, jetzt aber heraufruft. Gegen alles Neue, das ihn siegreich überdeckt. Wer so einen nicht vergisst, darf sich selber dankbar sein: Es hat nicht das Schlechteste zu bedeuten, ein wenig stabil zu sein in dem, was war. Alles Einmalige leuchtet nur in der Rückschau wirklich auf. Es beleuchte...

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