Die Nazis töteten ihn, andere schweigen ihn tot

Heute vor 100 Jahren wurde der von den Nazis ermordete Ringer Werner Seelenbinder geboren

  • Michael Müller
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.
Die Tagesmeldung des nazideutschen Reichssicherheitshauptamtes war am 6. Februar 1942 vor allem einem Fahndungserfolg gewidmet: »Von der Stapoleitstelle Berlin konnte (am 4. Februar - d.V.) eine illegale KPD-Organisation aufgerollt werden,... Insgesamt wurden bei der Aktion 66 Personen festgenommen, deren Personalien in der Anlage aufgeführt sind.« Als »führende Köpfe« sind der Hauptmann
a.D. Dr. Josef Römer und der Kommunist Robert Uhrig genannt. In der alphabetischen Reihenfolge dieser Anlage taucht als Nummer 53 der Name Werner Seelenbinder auf, von Beruf Furnierer (Gestapo-Berichte 1939-1943, Dietz Verlag, Berlin, 1989).
In den Tagen danach verhaftete die Gestapo in ganz Deutschland weitere Mitglieder der später von ihr als »Uhrig-Gruppe« bezeichneten Widerstandsorganisation. Insgesamt rund 200. Jeder Vierte wird später hingerichtet oder im KZ umgebracht. Am 24. Oktober 1944 kam Werner Seelenbinder in Brandenburg-Görden unters Fallbeil. Am heutigen 2. August vor 100 Jahren ist er in Stettin geboren worden.

Arbeitersportler-Idol der 20er und 30er Jahre

Werner Seelenbinder war als Ringer das deutsche Arbeitersport-Idol der 20er und 30er Jahre, seit er 1925 bei der ersten Arbeiterolympiade in Frankfurt/Main Gold erkämpft hatte. Sechs Mal wurde er nationaler Meister, gewann zwei Mal EM-Bronze und kam bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin im Halbschwergewicht - obwohl als einer der Favoriten angetreten - auf den vierten Rang.
Dass er damals überhaupt in Berlin starten konnte, war allein der Medaillengier der olympischen Nazi-Gastgeber geschuldet. Denn das KPD-Mitglied Seelenbinder war für sie bereits 1936 mehr als ein unsicherer Kantonist: zwei Mal schon aus politischen Gründen verhaftet und 1933 mit einer 16-monatigen Trainings- und Wettkampfsperre belegt, weil er im Berliner Saalbau Friedrichshain bei der Siegerehrung zu einem deutschen Meistertitel nicht die Hand zum Hitlergruß hoben hatte. Zum Tode verurteilt wurde er dann am 5. September 1944 allerdings mit der Beschuldigung, dem illegal in Deutschland agierenden Instrukteur von Komintern und KPD-Zentralkomitee, Alfred Kowalke, Quartier und (Verhaftungs-)Schutz gegeben zu haben.
Seit 1938 war Werner Seelenbinder in der Gruppe Uhrig aktiv gewesen. Unter anderem bei der konspirativen Herstellung und beim illegalen Vertrieb eines (Kriegslage-) »Informationsdienstes«. In dem hatte es beispielsweise mit Herausgabedatum »Mitte Dezember 1941« geheißen: »Im Schicksal Europas ist eine Wendung eingetreten... Weder Leningrad noch Moskau wurden (von der Hitler-Wehrmacht - d. V.) genommen! Im Gegenteil... Die roten Truppen trieben Hitlers Front fast zweihundert Kilometer zurück... (Das ist die) Bankrotterklärung des Blitzkrieges... Hitler ist zur Strategie der Niederlage gekommen (im Original unterstrichen - d.V.; zitiert aus einem Faksimile in: Gestapo-Berichte 1939-1943, a.a.O.).

Als Stauffenberg noch auf Hitler setzte

Solch analytischer Sachverstand mündete in linken Widerstandskreisen, zu denen der Arbeitersportler Werner Seelenbinder gehörte, bereits im Dezember 1941 mit all seinen Konsequenzen in eine breite nationale Widerstandspraxis. Der spätere Hitler-Attentäter Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dessen Taschen-Bomben-Attacke vom 20. Juli 1944 hier zu Lande jüngst per Staatsakt begangen wurde, war da immer noch ein emsiger Oberstleutnant in der Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres und »erfüllt von jenem Siegesgefühl, das damals die meisten Deutschen erfasst hatte«, wie es im Standardwerk des niederländischen Historikers Ger van Roon »Widerstand im Dritten Reich« (C.H.Beck, München, 1987) zu lesen ist.
Weiter heißt es bei Ger van Roon: »Widerstand lehnte der Generalstabsoffizier damals noch ab, besonders während eines Krieges gegen das kommunistische Rußland... Als es nach dem Mißerfolg der Offensive gegen Moskau zu Auseinandersetzungen zwischen Brauchitsch und Hitler kam und Hitler darauf selbst den Oberbefehl übernahm, war Stauffenberg optimistisch und zuversichtlich. Er meinte, daß (so) die Lage an der Ostfront verbessert werden könnte.«
Seelenbinder war zu der Zeit bereits dezidiert anderer Auffassung. Und mit ihm viele andere linke Antifaschisten. Allein 1942, in dem Jahr also, als Stauffenberg und Kameraden im Osten noch so »optimistisch und zuversichtlich« gestimmt waren, sind 9916 kommunistische und 697 sozialdemokratische antifaschistische Widerständler verhaftet worden (siehe Statistik-Faksimile in »Gestapo-Berichte«, a.a.O.). Etwa jeder Fünfte von ihnen war bis April 1945 hingerichtet oder wurde im KZ zu Tode gequält.
Auf all dies an Werner Seelenbinders 100. Geburtstag zu verweisen, soll seinen bescheidenen Anteil am enormen linken antifaschistischen Widerstand ebenso wenig glorifizieren, wie es die enorme Rolle Stauffenbergs am bescheidenen militärischen Widerstand gegen Hitler herabwürdigen will. Wohl aber sei auf die Tatsache verwiesen, dass der eine - Stauffenberg - hier zu Lande offiziell zum patriotischen Ehrenretter in der Zeit der Hitlerbarbarei hochstilisiert wird, während vom Namen des anderen - Seelenbinder - »in den alten Bundesländern viele abgeschreckt« werden, er dort als »Über-Kommunist verschrien« ist (Martina Behrendt, Leiterin des Berliner Sportmuseums, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 7. 2004).

In der DDR nur ein Kult-Widerständler?

In diesem zweifelhaften polit-historischen Licht verlieren übrigens auch viele der Einwände an Gewicht, die da sagen, Seelenbinder sei in der DDR nur zu einer Art Kult-Widerständler gemacht worden. An solchem Bedauern hat sich auch der einstige DDR-Fernsehjournalist Hagen Boßdorf (jetzt ARD-Sportkoordinator) versucht. »In der DDR wurde Werner Seelenbinder als Vorbild vorgegeben«, vertraute er nach der »Wende« den alten Bundesbürgern an (Tageszeitung, 9.8.1991). »Doch die Vorgabe funktionierte nicht, denn was sollten die Kinder von ihm übernehmen: Seinen Heldentod? Seine Olympiateilnahme?« Und Boßdorf enthüllte weiter: »Nach einer der taz vorliegenden Liste, mußten sich zu DDR-Zeiten 19 Objekte mit dem Namen "Werner Seelenbinder" schmücken. Dazu gehören die Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin,...« (usw., usf.)
Eben diese Sporthalle wurde 1950 in Ostberlin eröffnet, im gesamtberliner Olympiabewerbungswahn Anfang der 90er Jahre abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Ersetzt wurde in diesem Zuge unter dem CDU/SPD-Senat auch ihr Name, nämlich durch »Velodrom im Europasportpark«.
Tausende Berliner hatten vor der Neu-Einweihung im Herbst 1996 in einer Postkartenaktion den alten Namen gefordert. Auch das zuständige Bezirksparlament sowie das Bezirksamt von Prenzlauer Berg plädierten dafür. Die damalige Sport-Senatorin Ingrid Stahmer (SPD) indes ließ das Nein einer von ihr berufenen siebenköpfigen Jury gelten; nur am Eingang einer kleinen Halle innerhalb des Gesamtkomplexes, die öffentlich so gut wie nie auftaucht, bekam Seelenbinder eine Namenstafel. Auf die Wieso-Frage dieser Zeitung meinte Stahmer, dass man eben nicht einfach »so nahtlos übergehen« wollte und dass es sich doch »um einen neuen Sporthallenkomplex« handele (ND, 16./17.11.1996).
Im Osten Berlins überdauerte der Name Werner Seelenbinder in der Neu-BRD übrigens zumindest in zwei Fällen: In Köpenick gibt es nach wie vor die Seelenbinderstraße. Und die einstige Kinder-und Jugendsportschule in Hohenschönhausen heißt seit 1992 (nach einer kurzen namenlosen Phase nach dem DDR-Ende) wieder Werner-Seelenbinder-Schule; hier drückte auch Franziska van Almsick die Schulbank.
In Westberlin verschwand Seelenbinders Name offiziell bereits kurz nach Kriegsende. Im Juli 1945 hatte der Magistrat dem (in Westberlin liegenden) »Stadion Neukölln« den Namen »Werner-Seelenbinder-Kampfbahn« gegeben. Bald nach der Westberliner Senatsbildung ordnete das Sportamt Neukölln die Rückbenennung an; es blieb nur ein versteckter Gedenkstein. »Was soll man an diesem neuesten Bubenstück... eigentlich mehr bewundern, die bodenlose Frechheit und Gemeinheit oder die grenzenlose Dummheit«, fragte der ND-Kommentator damals (ND, 14.9.1949). Ähnlich fragt man es sich auch noch heute, wenn mit der Wiedereröffnung des neuen Leipziger Zentralstadions der Name des alten, an gleicher Stelle stehenden »Werner-Seelenbinder-Turms« offiziell in »Glockenturm« geändert wurde (ND, 17./18. 7. 2004).

Wo Seelenbinders Henker unbehelligt weiter wirkten

Wie meint die Berliner Sportmuseums-Leiterin Martina Behrendt doch in der bereits zitierten vorgestrigen F.A.Z. zu Werner Seelenbinder? - »Seine Rolle im Widerstandskampf wurde (in der DDR - d.V.) überbewertet... Leider gibt es bis heute (über ihn - d.V.) noch keine wissenschaftliche Biographie.«
Dazu sei angemerkt, dass der Fall Seelenbinder in der Ex-BRD alles andere als »überbewertet« worden ist - denn Seelenbinders Ankläger und Richter konnten dort unbeschwert ihre Karriere fortsetzen. Staatsanwalt Paul Picke war im Hitler-Staat an mindestens zehn Todesurteilen gegen Antifaschisten beteiligt und gelangte in der BRD noch bis ins Amt eines Senatspräsidenten des Oberlandgerichts Saarbrücken. Nazi-Richter Wolfgang Münstermann, der mindestens 18 Antifaschisten aufs Schafott oder an den Galgen brachte, verdiente in der alten BRD noch lange als Anwalt in Celle weiter sein gutes Geld. (Unsere Zeit, 27.11.86)

Heute lädt die Berliner PDS unter dem Motto »Die Stadt und der Sport ehren Werner Seelenbinder« um 15 Uhr ins Stadion Neukölln, Oderstraße 182, zu einer Seelenbinder-Gedenkveranstaltung ein. Als Redner angesagt sind Bürgermeister und Senator Harald Wolf (PDS), Peter Harnisch, Präsident des Landessportbundes und Claus ...

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