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Ein unsichtbarer Streik mitten in Berlin

PRENZLAUER BERG: Für 6,35 DM Stundenlohn auf dem Bau - und bei Krankheit ab nach Polen

  • Lesedauer: 3 Min.

Morgens: 16 Bauarbeiter stehen vor dem Haus, reden, rauchen, lehnen sich an die Gerüststangen.

Mittags: Einer der 16 holt etwas zu essen, die anderen stehen in kleinen Gruppen auf dem Bürgersteig. Leute verlassen das Haus, die Bauarbeiter machen ihnen Platz.

Seit Monaten wird dieses Haus in Prenzlauer Berg renoviert. Heute haben die 16 Bauarbeiter ihre Kelle niedergelegt, sie klettern nicht aufs Gerüst, sie nehmen keine Abgüsse vom Stuck. Und kaum einer von den Fußgängern, noch nicht einmal die Bewohner des Hauses bemerken, was hier ge-

schieht: Ein Streik mitten in Berlin.

Die 16 Männer sind aus Polen: Restauratoren, Stukkateure, qualifizierte Fachleute. In ihren Heimatstädten waren sie erwerbslos. Sie sind 16 von Tausenden, die auf eine Anzeige hin von einer polnischen Firma eingestellt wurden mit der Maßgabe, sofort unbezahlten Urlaub zu nehmen und den in Deutschland zu verbringen. Von ihrer polnischen wurden sie an eine deutsche Firma ausgeliehen, als Werkvertragsarbeiter mit Papieren ausgestattet und nach Berlin geschickt. Der Arbeitgeber hat eine zweiwöchige Kündi-

gungsfrist - über Urlaub oder Regelungen im Krankheitsfall enthält ihr Arbeitsvertrag keine Aussagen. Im Sommer ist einer von ihnen gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Ohne Erste Hilfe, ohne ärztliche Behandlung wurde er ins Auto gesetzt, nach Polen gebracht und gekündigt.

Nachts schlafen die 16 in drei Zimmern, tags, auch samstags, arbeiten sie. Alle sechs Wochen fahren sie für ein Wochenende nach Hause.

Das alles haben sie ja noch ertragen - nur jetzt wollen sie den Lohn nicht mehr dulden. 12,70 DM sollen sie pro Stunde erhalten, so steht es in ihrem

Arbeitsvertrag. Die 12,70 sind aufgeteilt in einen „stabilen Teir von 6,35 DM und einen „variablen Teil“ von ebenfalls 6,35 DM, dessen Modalitäten der Paragraph 6 „in der Anlage“ regelt. Die Anlage zum Arbeitsvertrag hat nie einer von ihnen zu Gesicht bekommen, die ihnen vorenthaltenen 6,35 DM pro Stunde auch nicht.

Es ist Nachmittag geworden. Die 16 Bauarbeiter gucken jetzt alle auf einen gestikulierenden und lauthals auf sie einredenden Mann in Schlips und Kragen. Ihr Meister hat sich eingefunden. „Wenn ihr morgen noch streikt, fliegt ihr“. Sie stehen zusammen, Keiner sagt etwas.

Ja, sie haben Angst, daß sie fliegen. Sie wollen Geld verdienen. Warum sie sich nicht an die Gewerkschaft gewandt haben? In Polen seien sie in der Gewerkschaft gewesen, jetzt aber nicht mehr, weil ihre polnische Firma sie in unbezahlten Urlaub geschickt habe. Sie wußten, daß sie sich in Deutschland auf ungeschützte und rechtlose Arbeitsverhältnisse einlassen.

Irgendwo ist aber auch für sie Schluß. Für 1100 Mark wollen sie nicht mehr arbeiten. Wenn schon nicht die vertraglich versprochenen 2400 DM Monatslohn, so doch 1500. Wenigstens.

CHRISTIANE REYMANN

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