- Ratgeber
- Betriebsrat
»Störung des Betriebsfriedens« durch Meinungsäußerung?
Einem gewerkschaftlichen Vertrauensmann, Mitglied der IG Metall, wurde vom Arbeitgeber wegen einer politischen Meinungsäußerung fristlos, hilfsweise fristgemäß, gekündigt: Die dagegen gerichtete Klage war vor dem Arbeitsgericht erfolgreich, das Landesarbeitsgericht wandelte die fristlose in eine fristgerechte Kündigung um, und das Bundesarbeitsgericht (BAG) stellte das erstinstanzliche Urteil wieder her: keine Kündigung.
Die Vorgeschichte: Im Betrieb wurde über den hohen Krankenstand diskutiert. In einem Zwischenbericht in der Betriebszeitung wurde arbeitgeberseitig der Krankenstand unter den türkischen Mitarbeitern mit der Bemerkung »auf Grund Landeskultur und/oder Qualifikation?« versehen. Der dadurch ausgelösten Kritik unter den Beschäftigten trat der Arbeitgeber mit einem Aushang entgegen, in dem er den Begriff »Landeskultur« ausdrücklich zurück nahm.
Nachdem an seinem Pkw ein Scheinwerfer eingetreten worden war, stellte der Kläger ein diesen Vorgang betreffendes kritisches Schreiben in das von der IG Metall im Internet organisationsintern betriebene »Netzwerk Küste«, das nur mit einem Passwort geöffnet werden kann. Darin stand der vom Arbeitgeber monierte Satz: »Leider war da schon der braune Mob aktiviert, und sie wagten sich, gestärkt durch einen leitenden Angestellten, aus ihren Verstecken.«
Über das Passwort verfügen ca. 800 Personen, darunter auch gewerkschaftsexterne Berater und Referenten. Der Artikel gelangte anonym in die Personalabteilung und ein paar Tage später - durch Unbekannt - ans Schwarze Brett des Betriebs. Da sich der Kläger von dem Artikel nicht distanzierte, folgte die erwähnte Kündigung, denn ein leitender Angestellter und zwei Betriebsratsmitglieder (!) hatten sich beleidigt gefühlt.
Das BAG urteilte, die bloße Beeinträchtigung des Betriebsfriedens ohne konkrete Feststellung einer arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung reiche zur Annahme eines verhaltensbedingten Kündigungsgrundes nicht aus (Urteil vom 24. Juni 2004, Az. 2 AZR 63/03). Das Gericht erläuterte diese Feststellung dahingehend, dass gemäß § 241 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches bei der Gestaltung der »Rücksichtnahmepflicht des Arbeitnehmers« die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht des Arbeitnehmers auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes zu beachten seien.
Mit der »überragenden Bedeutung« dieses Grundrechts wäre es unvereinbar, so das BAG weiter, wenn Art. 5 Abs. 1 in der betrieblichen Arbeitswelt, die für die Lebensgrundlage zahlreicher Staatsbürger wesentlich bestimmend sei, nicht oder nur eingeschränkt anwendbar wäre. Die Äußerung des Klägers im Intranet seiner Gewerkschaft stelle sich als eine »grundrechtlich geschützte Inanspruchnahme seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit« dar. Weder Form noch Inhalt verletze strafrechtliche Regeln noch die persönliche Ehre der Angesprochenen.
Diese Aussage des BAG gehörte vielen Arbeitgebern in großen Lettern auf den Schreibtisch genagelt, denn nur allzu oft klaffen betriebliche Wirklichkeit und Rechtsauffassung weit auseinander. Dafür steht der Erfahrungssatz, dass der demokratische Sektor vor dem Fabriktor endet. Gerade in Zeiten heftiger politischer Diskussion (Hartz-Gesetze, längere Arbeitszeit, Krieg und Rüstung) versuchen Arbeitgeber und ihre Verbandsfunktionäre, die betriebsverfassungsrechtliche Verpflichtung auf den Betriebsfrieden zu bemühen, um so die engagierte Meinungsäußerung von Arbeitnehmern, Betriebsräten und Gewerkschaftern »draußen« zu halten.
Betriebsräte sollten sich durch dieses BAG-Urteil ermutigt fühlen, vermehrt auch politisch - zumal sozialpolitisch - kontroverse Themen auf die Tagesordnung der Betriebsversammlung und der verschiedenen Sitzungen zu setzen und zum Bestandteil ihrer betriebsinternen Informationsarbeit zu machen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Störung des Betriebsfriedens und die parteipolitische Betätigung (Betriebsverfassungsgesetzes § 74 Abs. 2) a...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.