Die Medizin der Mayas
Heilung durch Pflanzen, Feuer und Gebete in Guatemala
Der gestrige 9.August ist von den Vereinten Nationen zum internationalen Tag der indigenen Völker ausgerufen worden. In Guatemala werden die Mayas seit der Eroberung durch die Spanier unterdrückt. In den letzten Jahren bemühen sie sich mit Erfolg um die Wiederbelebung ihrer Kultur und Medizin.
Ein Arzt ist nach Pochuta gekommen. Das ist ein besonderes Ereignis für die Menschen in diesem Dorf nahe der Pazifikküste des mittelamerikanischen Landes Guatemala. Über hundert Kinder warten darauf, von dem Doktor untersucht zu werden. Viele der kleinen Patienten sind stundenlang zu Fuß gegangen. Die Arzthelferin Rosario Puc stellt jedes Kind auf eine Waage. Nahezu alle sind unterernährt. »Manchmal ist es zu spät, dann können wir nicht mehr helfen«, klagt Rosario Puc. »Letztens kam ein Junge, der alle seine Haare verloren hatte. Er war so geschwächt, dass er nicht mehr stehen konnte. Wenn Kinder lange hungern, dann bläht sich ihr Magen auf oder der Körper wird so dünn, dass man die Knochen durch die Haut sehen kann.« Rosario Puc steht der Bevölkerung von Pochuta Tag für Tag mit Rat und Tat zur Verfügung. Doch nur zwei Mal im Jahr kommt ein Arzt. Diesmal muss Dr. Camey fast jedem Kind Tropfen gegen Augeninfektionen verschreiben. Hautkrankheiten sind genauso häufig wie Entzündungen der Atemwege und Durchfallerkrankungen. »Eigentlich müsste der Staat diese Dienste übernehmen«, klagt Dr. Camey. »Die Bevölkerung hat ein Recht darauf. Aber in Guatemala gilt es als normal, dass den Armen eine schlechte Versorgung geboten wird, wenn überhaupt. Für sie gibt es keine Infrastruktur, kein Personal, keine Medikamente.« Ein Großteil der guatemaltekischen Ärzte - über achtzig Prozent - arbeitet in der Hauptstadt, obwohl dort nur zwanzig Prozent der Bevölkerung leben. In Dörfern wie Pochuta gibt es zwar einen staatlichen Gesundheitsposten, aber der ist oft geschlossen. Wenn dort mal ein Arzt vorbeikommt, behandelt er nur wenige Patienten und verschreibt teure Medikamente. Dafür aber haben die meisten Kranken kein Geld. Zudem sprechen sie häufig kaum Spanisch und der Arzt versteht nicht die Mayasprache der Region, Kaquchikel. So suchen viele Mayas lieber Hilfe bei ihren traditionellen Heilern. Meist sind es die Angehörigen eines Kranken, die einen Mayapriester bitten, eine Zeremonie durchzuführen. Solche Zeremonien finden häufig an besonderen Orten statt. Iximché zum Beispiel ist eine alte Ruinenstadt der Mayas im Hochland Guatemalas. Ein kleiner Altar steht mitten im Wald, bedeckt mit Blumen, Tannennadeln und Kerzenwachs. Die Mutter des Kranken streicht mit großen Tabakblättern über seinen Kopf. Ein Onkel gießt Alkohol in ein kleines Feuer und verstreut Zucker. Der Mayapriester wirft Büchsen mit scharfem Chili als Gaben in die Flammen. In der Hitze bersten die Dosen mit lautem Knall auseinander. Kinder spielen im Wald und weitere Verwandte unterhalten sich bei einem Picknick. Der Mayapriester Narziso Cojti ist überzeugt davon, dass die Gemeinschaft der Familie und die Spiritualität der Zeremonie das Böse vertreiben: »Manchmal ist es sinnvoll, dem Kranken Kräutertees zu geben. Aber es ist die Zeremonie, die der heilenden Wirkung des Tees die Richtung gibt. Wenn es gelingt, alle positive Energie zu konzentrieren, kann ihr keine Kraft widerstehen.« Das traditionelle Wissen der Mayas ist nie umfassend aufgeschrieben worden. Deshalb hat der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) eine Untersuchung gefördert, an der die Anthropologin Karin Eder beteiligt war. Ihrer Ansicht nach kann auch die westliche Medizin etwas von den alten Praktiken lernen. »Die Heiler sehen den Menschen und seine Umgebung als Ganzes. Es ist sicherlich sinnvoll die Ursachen von Krankheit auch im sozialen Umfeld der Patienten zu suchen. Konflikte wie Neid oder Eifersucht können durchaus zu Krankheiten führen. In der Diagnose der westlichen Medizin aber spielen diese Dinge keine Rolle.« Einer der bekanntesten Heiler der Mayamedizin ist Apolinario Pixtún. Viele Leute nehmen weite Reisen auf sich, um in seinem Haus behandelt zu werden. An den Adobewänden hängen keine gerahmten Diplome oder Auszeichnungen, sondern Musikinstrumente, Federn und Holzschmuck. »Früher wurden wir Hexer genannt«, erinnert sich Don Apolinario. »Die Ärzte, die Polizei und die Regierung haben uns verfolgt und getötet. Das Wort Hexer stammt wohl aus Europa, aus der Zeit der Inquisition. Viel-leicht gibt es ja wirklich Hexer, aber ich habe noch keinen kennen ge-lernt.« Don Apolinario hat gerade ein Gespräch mit einem jungen Paar beendet. Die beiden machen sich Sorgen um ihren fünf Monate alten Sohn. Sie waren schon bei mehreren Kinderärzten, doch keiner konnte sagen, was dem Säug-ling fehlt. Er ist winzig und schwach, trinkt wenig, schläft schlecht und weint ständig. Don Apolinario hat den Eltern viele Fragen gestellt, den Bauch der Mutter abgetastet und auf ihrer Brust gehorcht. Danach hat er ein Feuer entfacht und in den Flammen gelesen. Schließlich gab er den jungen Leuten den Rat, ihre Ernährung umzustellen und sich nicht mehr so häufig zu streiten. Nicht das Kind sei krank, sondern die Muttermilch und die Beziehung der Eltern. Fälle wie dieser sind Routine für Don Apolinario. Er sagt, es sei typisch, dass die Ärzte nur das Kind untersucht hätten, ohne sein Umfeld zu betrachten. Die Medizin der Mayas hingegen sieht die Ursache vieler Krankheiten darin, dass das Miteinander von Menschen oder von Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht geraten ist. Aber Don Apolinario spricht nicht gern mit Fremden über diese Dinge. Die meisten Mayapriester haben ihr Wissen bis vor Kurzem völlig im Verborgenen gehalten. »Wir mussten um unser Recht kämpfen. In diesem Kampf haben viele Menschen ihr Leben verloren. Es ist Blut geflossen. Unsere Großväter und Eltern wurden erdrosselt, ins Meer geworfen, verbrannt. Trotz all dem existiert das Wissen unserer Vorfahren weiter.« Seit die Spanier Mittelamerika erobert haben, werden die Mayas ausgegrenzt, unterdrückt und in grausamen Kriegen massakriert. Doch in den vergangenen Jahren haben sich immer mehr Mayas öffentlich um eine Wiederbelebung ihrer Kultur bemüht. Dabei spielt ihre traditionelle Medizin eine wichtige Rolle. »Sie ist Teil des Lebens der Gemeinden,« bestätigt auch Dr. Camey. »Der Naturmedizin ist es zu verdanken, dass die Bevölkerung einigermaßen gesund bleibt. Ohne die Arbeit der He...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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